
Der, der seinen Schöpfer kennt
Streifzug durch die Geschichte
„Das Ziel der Torah ist es nicht, Fakten und ihre Abfolge darzustellen…
Die Torah lehrt nicht, WIE die Welt erschaffen wurde, sondern WOZU sie erschaffen wurde.“
(Raschis Kommentare zu Bereshit 1)
Am Vorabend von Rosh ha-Shana möchte ich eine Frage stellen: Was wissen wir im Grunde genommen über diesen Feiertag, wie verstehen wir ihn, womit assoziieren wir ihn und was feiern wir letztendlich? Wenn derartige Fragen gestellt werden, wird die überwältigende Mehrheit antworten, dass Rosh ha-Shana das jüdische Neujahr ist und wir heute das 5781. Jahr seit der Erschaffung der Welt feiern, und sehr wahrscheinlich wird der Antwortende hinzufügen: Das sagt die Torah darüber…
Lasst uns dieser Frage auf den Grund gehen. Natürlich ist es in einem kurzen Essay praktisch unmöglich, alle tiefgehenden Fragen zu behandeln, doch ich möchte nur leicht den Vorhang anheben, hinter dem sich die Wahrheit versteckt.
Also, der Name des Feiertags Rosh ha-Shana wird traditioneller Weise als „Neues Jahr“ übersetzt. Doch diese Übersetzung entspricht überhaupt nicht dem wörtlichen Sinn dieser Worte im Hebräischen, wo „rosh“ „Kopf“ bedeutet und „shana“ „Jahr“ heißt. Es ist nicht schwer zu verstehen, dass die Übersetzung, welche der Primärquelle eher entspricht, „wichtigster Tag des Jahres“ sein wird. Was geschah denn an diesem Tag und feiern wir exakt die Erschaffung der Welt? Ich möchte anmerken, dass Juden die Erschaffung der Welt nicht weniger als 52 Mal im Jahr feiern und dass dieser Tag Shabbat heißt. Rosh ha-Shana aber ist der Jahrestag eines ganz bestimmten Ereignisses, auch wenn dieses so weit zurückliegt, dass viele, die diesen Tag feiern, sich nicht daran erinnern. Rosh ha-Shana ist der Jahrestag der Schaffung des ersten Menschen, Adams. In seinem Kern ist dies der Geburtstag der Menschheit, der Tag, an dem die Erinnerung der Menschheit und die Reflexion des Individuums verewigt ist.
Skeptiker werden in diesem Moment aller Wahrscheinlichkeit nach die Frage stellen: Wenn Adam ha-Rishon – אדם הראשון (der erste Mensch) vor 5781 Jahren geschaffen wurde, wann wurden dann Australopithecus, Neandertaler, Cro-Magnon-Mensch oder schlussendlich die Mammuts und Dinosaurier erschaffen? Es ist am wichtigsten, sich daran zu erinnern, dass das Judentum der modernen Wissenschaft überhaupt nicht widerspricht. Im Grunde gibt es im Judentum eine Vielzahl von Richtungen und Strömungen, doch im tiefsten Verständnis läuft alles auf die zwei wichtigsten philosophischen Schulen unter den Rabbinern hinaus: die Mystiker und die Rationalisten. Die ersteren fassen alles, was in der Torah geschrieben steht, wörtlich auf und stellen es sich wirklich so vor, dass der Mensch „aus Lehm geschaffen“ wurde. Rationalisten dagegen sind der Meinung, dass „aus Lehm geschaffen“ auch als „Menschen aus Tieren erschaffen“ übersetzt werden kann.
Mystiker glauben, dass Adam eine Rippe entnommen wurde, aus welcher Chava geschaffen wurde (die Völker der Welt nennen sie Eva, weil sie annehmen, dass es ihr Name sei). Doch Chava ist nicht der Name der ersten Frau, es ist ihre Eigenschaft, die im Hebräischen „die Leben Schenkende“ bedeutet. Rationalisten stellen die Frage: Wenn der Schöpfer etwas mit Worten schaffen kann, warum sollte er eine unbegreifliche chirurgische Operation durchführen müssen? Wieso sollte er auf sadistische Weise einem lebendigen Menschen eine Rippe herausschneiden, um ihm eine Ehefrau zu erschaffen? Kann der Allm‘‘chtige sich denn keine anderen nicht-chirurgischen Methoden einfallen lassen, um die erste Frau zu erschaffen?

Oder im Biologie-Unterricht: der Karyotyp des Menschen, d.h. die individuelle Ansammlung von Chromosomen besteht aus 46 Chromosomen (23 Paare), von denen 44 Chromosomen (22 Paare) Autosomen sind. Mit anderen Worten: Autosomen sind Chromosomen, die bei allen zweigeschlechtlichen Organismen gleich sind, d.h. sie sind bei Männern und Frauen gleich und nur ein Paar von Geschlechtschromosomen (XY bei Männern und XX bei Frauen) bestimmt das Geschlecht eines Menschen. Im Endeffekt kann nur aus einer Zelle mit einer diploiden Sammlung von Chromosomen, XY (männlich), beim Teilungsprozess sowohl eine männliche als auch eine weibliche Zelle entstehen. Aus einer weiblichen XX-Zelle ist es aber unmöglich, durch Zellteilung eine männliche Zelle zu erhalten. Dabei sind Rationalisten davon überzeugt, dass in der Torah wahrscheinlich die Rede von der Teilung einer männlichen Zelle (am Rand „צלע“ entlang) ist und davon, dass daraus eine weibliche Zelle entsteht.

Im Grunde genommen bedeutet das hebräische Wort «צלע» („zela“) nicht nur „Rippe“, sondern auch „Seite“ oder „Rand“. Erinnert euch, wie man uns im Geometrie-Unterricht die Aufgabe stellte, eine Pyramide diagonal an ihrer Seite entlang zu teilen.
Einer der größten Rabbiner und Kabbalisten des 20. Jahrhunderts, der Begründer der philosophischen Konzeption des religiösen Zionismus, Rav Avraham Yitzchak Kook schreibt in seinem Buсh „Orot ha-Kodesh“: „Die Idee, dass der Allm‘‘chtige evolutionär handelt, ist eine alte kabbalistische Idee, doch die meisten waren nicht gebildet genug, um sich damit abzufinden. Die meisten ziehen eine Vorstellung von G‘‘tt als Zauberer vor, der seinen Zauberstab schwenkt, „Es werde Licht“ sagt – und das Universum erscheint auf der Stelle. Doch die Kabbalisten sprechen von einer „Evolution der Welten“.
Die Torah spricht die Sprache der Menschen. Die Geschichten der Torah sind bei weitem nicht immer wörtlich, sondern fast immer metaphorisch, sie haben keine Chronologie bei der Beschreibung des Schöpfungsprozesses. Die Welt ist Milliarden von Jahren alt und die sechs Tage der Schöpfung sind ein Bild – das hebräische Wort „jom“ (יום) bedeutet nicht nur „Tag“, sondern auch eine gewisse Periode, einen Zeitabschnitt. Wie lange der „erste Tag“ (erster Abschnitt) dauerte? Vielleicht war es eine Milliarde von Jahren, vielleicht waren es zwei Milliarden… Doch man kann eindeutig sagen, dass der Urknall (Big Bang) und die weitere Evolution durch eine rationale Macht, d.h. den Allm‘‘chtigen gestartet wurden.
Wie Raschi sagt: „Die Torah beschreibt nicht die Fakten bei der Erzählung von der Schaffung der Welt. Die Torah informiert uns über die Tendenzen und Ziele, was das ganze Gespräch darüber auf eine moralische Ebene bringt.“
Und wir kehren doch zu Rosh ha-Shana zurück. Wir haben bereits erfahren, dass an diesem Tag die Menschheit geboren wurde, doch was ist mit dem Homo Sapiens? Die moderne Paläontologie behauptet, dass unsere ganze Gattung Homo Sapiens genetisch gesehen von einem gemeinsamen Vorfahren abstammt, der vor 70.000 Jahren in Afrika lebte.
Ich erinnerte mich in diesem Moment an die bemerkenswerten Worte von Rabbi Nachman aus Bratszlaw: „Zwei Menschen, die durch Zeit und Raum voneinander getrennt sind, können sich miteinander unterhalten. Einer stellt eine Frage, der andere aber stellt später an einem anderen Ort eine andere Frage, ohne sich darüber bewusst zu sein, dass seine Frage die Antwort auf die erste Frage ist.“ (22,182).
Genau in dieser Verbindung, bei der Antwort auf derartige Behauptungen der Paläontologie, kommen einem die Worte von Rav Avraham Yitzchak Kook in den Sinn: „Wir kennen nicht die Details der Schöpfung, die Torah ist kein Geschichtsbuch. Trotzdem haben wir die mündliche Überlieferung (Midrash Rabba und Zohar Waikra), dass G-tt Welten geschaffen und zerstört hat, darunter unterschiedliche Arten von „Menschen“, vor der Welt, in der wir leben.“ So erklärt Rav Kook in seinem Buch „Igrot“ (91) verschiedene Fragen, die antike Welten, ihre Bewohner, Fossilien und mögliche wissenschaftliche Differenzen und Widersprüche betreffen.
Besteht denn ein Unterschied zwischen dem, den die Welt der Wissenschaft „Homo Sapiens“ nennt, und dem, der in der jüdischen Welt „Adam ha-Rishon“ (אדם הראשון) heißt? Man kann die Frage so beantworten: Homo Sapiens ist der aufrecht gehende und sprechende Mensch. Adam ha-Rishon besaß genau diese beiden Eigenschaften – er ging aufrecht und sprach – doch er hat eine dritte Eigenschaft entwickelt, die wichtigste und spezifischste: Er kannte seinen Schöpfer. Adam ha-Rishon stellt den Beginn der Menschheit im nicht historischen und von der Zeit unabhängigen Sinne dar, auf der Ebene eines Archetyps, welche die intellektuell-psychologische Ebene der Entwicklung der Menschheit als Persönlichkeit vorstellt.
Laut der Vorstellung der Kabbala hat gerade mit Adam die geistige Entwicklung des Menschen begonnen. Er wünschte sich als Erster in der Geschichte der Menschheit, die spirituelle Welt zu erkennen und die Natur beider Welten zu erfassen – der materiellen und der spirituellen. Dieser Meinung waren viele Rabbiner, wie Rambam, Ralbag, Aryeh Kaplan, Yitzhak Herzog, Avraham Yitzchak Kook, Jonathan Sacks, Natan Slifkin.
Dabei ist bei dieser Frage das Wichtigste, nicht auf ein Monopol, auf die Wahrheit zu bestehen, während man andere der Dummheit und eines verzerrten Verständnisses der Texte bezichtigt und nicht zu vergessen, dass es in den Grundlagen des Judentums kein Dogma auf das wörtliche Verständnis der Geschichten und Gesetze der Torah gibt. Ausnahmen gibt es nur dort, wo unsere Weisen uns die wörtliche Bedeutung von den Propheten überliefert haben.
Und zum Schluss wünsche ich euch allen le-shana tova tikatevu ve-tichatemu (לשנה טובה תכתבו ותחתמו), was bedeutet „Möge die Entscheidung niedergeschrieben und besiegelt werden, dass ihr ein gutes Jahr habt.“
Ramiel Tkachenko, Chefredakteur des Magazins J.E.W.