
Ein jüdisches Kind beim Lernen im Cheder.
Polen kurz vor dem Ausbruch des Krieges im Jahr 1939.
Foto von Roman Vishniac
Die Gabe der Erinnerung
Streifzug durch die Geschichte
Worte sind Absichten – wenn wir sie aussprechen,
schaffen wir unsere Realität.
רמיאל בן מיכה
Viele Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg schien der Frieden in Europa stabil zu sein. Man war sich sicher, dass alle sich gut daran erinnern, wie viel Schrecken und Leid Kriege mit sich bringen. Doch leider wurde unsere Generation mit dem blutigsten Krieg der letzten 80 Jahre konfrontiert – dem Krieg, den Russland gegen die Ukraine entfesselt hat. Er dauert bereits über ein Jahr und kostet immer mehr Menschenleben.
Doch bei all diesen Leiden, welche die Ukraine zurzeit erträgt, zeigt ihr Volk eine unaufhaltbare Tapferkeit und Mut, Widerstandskraft und ein unglaubliches Verlangen nach Freiheit. Gerade die Freiheit ist die wichtigste moralische Errungenschaft und dieser Gedanke brachte mich auf den Zusammenhang mit dem jüdischen Fest der Freiheit. Das ukrainische Volk kämpft gerade um seine Freiheit, doch das Pessach-Fest, das wir erwarten, kann uns viel über den Charakter dieses Kampfes erzählen.
Die Geschichte von Pessach erinnert an die Bedeutsamkeit der Freiheit, indem es vom Kampf des jüdischen Volkes um die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten berichtet. Dies ist eine kraftvolle Erinnerung daran, dass man die Freiheit nicht als selbstverständlich ansehen sollte, dass man um sie kämpfen und sie verteidigen muss. Diese Botschaft ist nicht nur für das jüdische Volk aktuell, sondern auch für alle Menschen, die die Freiheit und das Recht frei zu sein schätzen. Ohne sie kann der Mensch nicht wählen und keine selbstständige Entscheidung treffen, er ist eingeschränkt in der Möglichkeit, sich selbst zu entfalten, wenn er ständiger Unterdrückung und Verfolgung ausgesetzt ist.

Cheder für jüdische Kinder. Polen, 1933. Foto von Roman Vishniac
Pessach ist das älteste religiöse Ritual auf der Welt, das noch heute existiert und praktiziert wird, es ist das jüdische Fest der Freiheit. Doch bis zur Freiheit, die Moses seinem Volk anbot, war es ein langer Weg. Anfangs wollte die Mehrheit der Juden von einem Auszug aus dem Lande Mizraim nicht einmal hören. Das Land Ägypten hieß „Mizraim“, weil Mizraim, der Sohn von Ham, die fruchtbaren Böden am Nil für sich erhalten hatte.
Wenn man sich den damaligen Auszug aus Ägypten auf der Suche nach Freiheit vorstellt, so würde das einer Emigration heutzutage von New York in die Wüste Sahara entsprechen. Warum New York? Weil es eine der großartigsten Städte der modernen Welt ist. Auch Mizraim wurde damals „der großartigste Glanz“, das mächtigste und größte Imperium der antiken Welt genannt.
Tatsächlich ist der Weggang von der äußeren Schönheit der fremden Welt zu der eigenen inneren Freiheit auch heute noch aktuell. Ich denke, wir versuchen jeden Tag unser „inneres Ägypten“ zu besiegen. Denn Freiheit ist eine moralische Errungenschaft, die ständige Anstrengung bei der Erziehung des Individuums sowie des Volkes verlangt. Ohne diese Mühe wird die Erziehung verkümmern und dann muss man aufs Neue um die Freiheit kämpfen.
Es ist erstaunlich, doch Moses erzählte seinem Volk nicht, als er es versammelte, dass sie nach dem Auszug in die Freiheit einen schweren Übergang durch die Wüste mit harten Prüfungen vor sich haben und versprach seinem Volk nicht, dass sie unbedingt das „Land, wo Milch und Honig fließen“ finden werden. Nein, Moses konzentrierte die Aufmerksamkeit auf völlig andere wichtige Dinge, die sich in drei einfachen Punkten äußern. 1. Kinder; 2. Bildung; 3. Zukunft: „Und wenn euch eure Söhne fragen: Was bedeutet diese Feier?“ (Exodus 12:26) „An diesem Tag erzähl deinem Sohn: Das geschieht für das, was der Herr an mir getan hat, als ich aus Ägypten auszog.“ (13:8) „Wenn dich morgen dein Sohn fragt: Was bedeutet das?“ (13:14).

Die Knaben erhalten eine jüdische Erziehung im Cheder. Polen, 1938. Foto von Roman Vishniac
Wenn man genau hinschaut, kann man erkennen, dass Moses nicht über die Freiheit, sondern über die Bildung spricht – und genau das macht ihn zu einer einzigartigen Führungspersönlichkeit. Er konzentriert seine Aufmerksamkeit nicht auf den morgigen Tag, sondern auf eine ferne Zukunft, und nicht auf die Erwachsenen, sondern auf die Kinder. Dabei erklärt er, dass es möglicherweise schwierig ist, der Tyrannei zu entrinnen, dass es jedoch noch schwieriger ist, eine freie Gesellschaft aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Auf lange Sicht gibt es nur eine Möglichkeit, es zu tun. Um ein Land zu beschützen, braucht man eine Armee, und für den Schutz der Zivilisation braucht man Bildung. Das ist es, warum man Moses als den weltgrößten Architekten einer freien Gesellschaft bezeichnet. Denn er war es, der in jeder Generation den Grundstein dafür legte, den eigenen Kindern die Bedeutung der Freiheit und die Möglichkeit sie zu erlangen zu lehren. Freiheit beginnt mit dem, was wir unseren Kindern beibringen. Deswegen wurden die Juden zu Menschen, die einen riesigen Drang nach Bildung haben, wurden weise Lehrer zum Ideal und Schulen zu Zitadellen der Lehre.
Die Menschheit erfindet eine Vielfalt an Methoden, Dingen und Lehren und jedes Mal bemüht man sich, uns zu überzeugen, dass gerade diese neue Methode, diese neue Lehre oder Technologie die Welt verändern wird. Doch Moses spricht von etwas anderem: Die Welt verändern und verbessern kann nur die Bildung. Indem man Kindern Geschichten erzählt, muss man ihnen die Gefühle für Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Rechtschaffenheit, Güte und Freiheit einimpfen. Denn diejenigen, welche die Lehren der Geschichte nicht verinnerlichen und den Kummer und das Leiden unseres Volkes in ägyptischer Sklaverei vergessen, können schlussendlich vergessen, wozu der Allm‘‘chtige die Freiheit gab und welche Mühen und welche Tapferkeit nötig sind, um darum zu kämpfen.
Seit vielen Jahrtausenden unserer Zivilisation denkt die Mehrheit der Völker leider weiterhin, dass Kriege und Ungerechtigkeiten von Tyrannen nur durch den Sturz des Tyrannen und die Erlangung von Freiheit beendet werden können. Doch viele sind enttäuscht, wenn die anscheinend gestern erlangte Freiheit sich lediglich als eine Änderung der Kulissen in der Führungselite herausstellt. Denn Moses spricht davon, dass die wirkliche Aufgabe nicht nur im Erlangen der Freiheit besteht, sondern auch darin, den Geist der Freiheit bei den folgenden Generationen aufrecht zu erhalten, welchen man unermüdlich lehren muss, zuallererst in den Familien.
Erzählt die Geschichte, sagte Moses im Buch Exodus. Wenn ihr die Sklaverei hinter euch lasst und den langen Weg durch die Wüste in die Freiheit beginnt, erzählt die Geschichte. In jeder Generation, jedes Jahr – erzählt die Geschichte. Wenn ihr überleben und den Glauben an die Unsterblichkeit erlangen wollt, erzählt die Geschichte.

Drei Buben lernen im Cheder. Polen, 1936. Foto von Roman Vishniac
Moses legt bei seiner Erklärung noch einen tieferen Sinn hinein. Erzählt die Geschichte nicht nur, macht sie lebendig. Nehmt an, es sei gerade erst passiert und sei noch frisch in der Erinnerung. Esst Mazza, das ungesäuerte Brot des Leidens, schmeckt die bitteren Kräuter der Sklaverei und trinkt vier Becher Wein, je einen für jede Stufe der Befreiung. Macht es nicht in den Synagogen, sondern zuhause, am Tisch, im Kreise eurer Familie. Bringt es zuallererst euren Kindern bei. Und möge es ein Teil ihrer Geschichte, ein Teil ihrer Erinnerung werden. Denn nur die Erinnerung vermag es, ihre Identität und die Verbindung zur Geschichte des Volkes zu formen. Gebt Kindern die Möglichkeit, eure Geschichte als ihre eigene zu sehen, sie sollen sich als Teil eines großen Ganzen empfinden. Sie sollen Fragen stellen und gemeinsam mit euch nach Antworten suchen. Streitet mit ihnen, doch hört nie auf die Geschichte zu erzählen.
Macht ihnen das größte aller Geschenke – die Gabe der Erinnerung, welche in ihnen die Geschichte, die Traditionen und das Erbe ihrer Kultur lebendig macht. Denn nur die Erinnerung an unsere Vergangenheit kann unser Erbe und unsere Geschichte für die kommenden Generationen bewahren, was im Grunde Unsterblichkeit bedeutet.
Ramiel Tkachenko, Chefredakteur des Magazins J.E.W.