Kämpferin für die Menschlichkeit

Irith Michelsohn erhält für ihr Engagement zum Dialog zwischen den Religionen, für die Pflege des Judentums und für ihre Hilfe für Menschen in Not den Verdienstorden des Landes NRW.

Bielefeld. Ministerpräsident Hendrik Wüst wird am Dienstag der Bielefelderin Irith Michelsohn den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen verleihen. Sie ist bekannt als Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Bielefeld und als treibende Kraft beim Bau der Synagoge Beit Tikwa, die 2008 an der Detmolder Straße eingeweiht wurde. Doch sie widmet sich noch viel mehr Menschen, unter anderem Kindern und Jugendlichen in den Palästinenser-Gebieten – auch gegen Widerstände in den eigenen Reihen.

Irith Michelsohn

Die 69-jährige Irith Michelsohn ist nicht nur als Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld sehr aktiv. Jetzt wird Michelsohn für ihr vielfältiges Schaffen geehrt.
Foto: Oliver Krato

Michelsohn wird 1953 in Tel Aviv geboren. Drei Jahre nach ihrer Geburt zieht die aus dem fränkischen Fürth geflüchtete Familie wieder zurück nach Deutschland. Michelsohn wächst in Franken auf („Man hört es mir heute noch an.“), bis sie 1976 als junge Frau aus beruflichen Gründen nach Bielefeld zieht. Hier arbeitet sie unter anderem für eine internationale Spedition und eine IT-Firma. Nach und nach fasst ihre gesamte Familie – auch die Eltern – in Bielefeld Fuß. Das Herz der gläubigen Jüdin treibt sie aber auch dazu an, Menschen zu helfen.

Als Ende der 1980er Jahre die Sowjetunion zusammenbricht, engagiert sie sich im Teutoburger-Wald-Heim.

„Ich habe damals viel in der Flüchtlings- und Jugendarbeit gemacht“, erinnert sie sich. In Bielefeld kamen viele Spätaussiedler zunächst in dem Übergangsheim an der Habichtshöhe unter: „Für mich war es immer wichtig, die Menschen willkommen zu heißen. Ich wollte ihnen zeigen, dass sie wichtig sind als Mensch.“ Später organisiert sie 17 Hilfstransporte in die russische Partnerstadt Bielefelds mit – nach Welikij Nowgorod.

Michelsohn sagt: „Wenn sich mehr Menschen ehrenamtlich engagieren und sich mit anderen Menschen auseinandersetzen würden, dann wäre die Welt ein deutliches Stück friedlicher.“

„Ich rate, nicht mit Kippa in die Stadt zu gehen“

Deshalb helfe ihre Gemeinde auch in der aktuellen Krise: 400 Geflüchtete aus der Ukraine betreue man derzeit. Längst nicht alle von ihnen seien jüdischen Glaubens. „Wir sind stolz darauf, dass keiner von ihnen in einer Sammelunterkunft landete.“ Die Sozialarbeiterin habe unter größtem Einsatz alle in eigenen Wohnungen unterbringen können.

Dass die Welt leider nicht immer so friedlich sei, das spürten auch sie und ihre Gemeindemitglieder immer wieder: „Auch wenn wir in Bielefeld noch in einer vergleichsweise friedlichen Blase leben, rate ich unseren jungen Erwachsenen bereits seit Jahren, nicht mehr offen mit einer Kippa oder einem Davidstern an der Kette durch die Stadt zu laufen.“

Mit jungen Muslimen, Christen und Juden nach Auschwitz

Es bestehe immer die Gefahr, dass sie dadurch einen „blöden Spruch“ zu hören kriegten. Viel schlimmer sei die Situation aber in Berlin oder im Ruhrgebiet, wo arabische Clans und Rechtsradikale für eine beängstigende Atmosphäre sorgten. Die Sprüche in Bielefeld kämen oft nicht durch Antisemitismus. „Die denken oft nicht darüber nach, was sie sagen.“ Diese Sichtweise ist typisch für Irith Michelsohn: Die 69-Jährige setzt immer auf den Dialog. Sie werfe Menschen aus Syrien nicht vor, dass sie nur Stereotype über die Juden und Israel kennten. In ihrem Land sei das Thema ja verboten. 2015/16 habe es gegenüber den arabischen Flüchtlingen viele Ressentiments gegeben, weil diese den Antisemitismus nach Deutschland gebracht hätten. Das sei vielfach nicht gerechtfertigt gewesen, sagt sie.

Deshalb setzt Michelsohn auf die Begegnung der Kulturen. Als Gründungsmitglied des Vereins „begegnen – für Toleranz in NRW“ setzt sie sich seit 2019 gegen Antisemitismus, Rassismus und für das Miteinander der Religionen ein. Junge Muslime, Christen und Juden erlebten gemeinsam die Vergangenheit, reisten nach Auschwitz und Buchenwald und lernten dabei, die Gegenwart positiv zu beeinflussen: „Wir sind auch nach Andalusien gereist und wollen im April nach Marokko. Dort gibt es seit dem Mittelalter friedliches Leben zwischen Juden und Muslimen.“

Fast als Einzelkämpferin fühle sich die 69-Jährige bei einem besonderen Hilfsprojekt: 2002 durfte sie mit einer Delegation des NRW-Landtagspräsidenten André Kuper im Palästinenser-Gebiet bei Bethlehem das Lifegate-Haus von Beit Jala besuchen: „Hier wird Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen geholfen. Die deutsche Leitung bietet für sie Schule, Ausbildung, Werkstätten und Pflege“, berichtet die Bielefelderin. Das christliche Projekt werde von der muslimischen Bevölkerung akzeptiert, doch das Geld sei knapp. Deshalb blieben jahrelang die zwei Fahrstuhlschächte leer. „Die müssen die Jugendlichen die Treppen hochtragen.“

Irith Michelsohn sammelte daraufhin auch gegen den Widerstand in ihrer eigenen Gemeinde für dieses Projekt Spenden. „Einen Aufzug konnten wir bereits einweihen.“ Der zweite sei aber genauso wichtig. Die Suche nach Spendern dauere also an. „Es ist schwierig, der jüdischen Gemeinschaft zu erklären, dass wir als Gemeinde etwas für Palästinenser machen wollen.“

Als Vorsitzende der Union Progressiver Juden steht die Bielefelderin ohnehin für einen liberalen Arm des jüdischen Glauben. Er wurde vor 250 Jahren in Deutschland gegründet und steht für die Gleichberechtigung der Geschlechter, für die liberale Auslegung der Tora und für eine Ausbildung deutschsprachiger Rabbiner und Rabbinerinnen.

Michelsohn ist vielfältig aktiv. In Bielefeld kennt man sie, weil sie das jüdische Leben in der Stadt sichtbar macht – trotz aller Angst vor Anschlägen und Auslandspropaganda. „Wir fühlen uns von der Polizei gut beschützt. Ich würde es nicht ertragen, wenn wir uns verstecken müssten.“ Deshalb wolle die Gemeinde weiterhin den Dialog suchen und nach außen gehen. „Wir sind Juden, wir sind aber auch Bielefelder.“

Am Dienstag erfährt Irith Michelsohn für ihren jahrzehntelangen Einsatz für die Menschlichkeit und den Dialog der Religionen eine besondere Anerkennung – den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen.

Jens Reichenbach, Neue Westfälische, 7. März 2023.
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