Shimshon
Beinahe ein Midrash
„Wenn du nicht sofort aufstehst, esse ich das Fladenbrot selbst auf“, brummte Minkah mit vollem Mund, die Reste des Honigs mit dem Finger in der Tonschüssel verschmierend. Shmulik schlief zusammengerollt nebenan auf der Unterlage, in der Tiefe der runden Hütte, auf die Schnelle aus Holz, Stroh und Erde gebaut.
Das Sorek-Tal gefiel den Jungs sofort, die es gewohnt waren, nicht lange an einem Ort zu bleiben. Die Weinreben, welche in großer Menge das Tal bedeckten, zeugten vom beharrlichen Lebensdurst der Juden, die schon seit einigen Jahrzehnten von den Philistern versklavt worden waren.
Den tief und fest schlafenden Shmulik anschauend erinnerte sich Minkah, wie er einmal den kräftigen benachbarten Richter Shimshon* fragte, als er ihn am Meeresufer traf. „Sag mir, wie ist er, der G“tt der Philister?“ Darauf schnaubte Shimshon verächtlich, warf seine in einen schweren Knoten gebundenen Zöpfe hinter den Rücken, bückte sich und malte im Sand ein Wesen mit dem Kopf eines Menschen und dem Körper eines Fisches.

„Dagon“, sagte er und sein Gesicht verzerrte sich für eine Sekunde. Minkah stellte keine Fragen mehr.
Plötzliche Schreie und der Lärm vieler Menschen vor dem Fenster weckten Shmulik endlich. „Was ist passiert?“ Er sprang besorgt auf und die Jungen liefen aus der Hütte hinaus. Dutzende philistischer Krieger mit Helmen und Röcken mit Fransen zogen den gefesselten Richter Shimshon hinter sich her, in ihrer kehligen Vogelsprache Verwünschungen rufend. Shimshon strengte seine Muskeln aus aller Kraft an, um die dicken Schnüre abzuwerfen und sich zu befreien, doch daraus wurde nichts. Sein Kopf, zum ersten Mal kurz geschoren, schien so klein wie der Kopf eines Kindes.
Shmulik schaute aufmerksam zu Minkah und sagte: „Der Richter war immer nett zu uns, ich denke, wir können ihn nicht im Stich lassen.“
Die Jungen mussten der tobenden Menge von Philistern lange hinterhergehen, mit Ruhepausen, durch Aschkelon bis nach Gaza. Niemand schenkte ihnen Beachtung. Wer braucht schon zerlumpte Kinder, die weder Familie, noch echte Manneskraft, noch Geld haben.

Für die Kinder war es seltsam zu beobachten, wie in einiger Entfernung langsam eine schöne Frau barfuß in einem bunten Rock mit einer goldenen Halskette ging. Shmulik wusste, dass sie Delilah hieß und dass sie die Freundin Shimshons war, und sah, dass mit ihr jetzt etwas nicht stimmte. Tränen flossen aus ihren tiefen dunklen Augen und hin und wieder war ihre Stimme zu hören: „G“tt, verzeih mir, verzeih mir“.
Als sie am späten Abend in Gaza angekommen waren, schafften es die Jungen den örtlichen Maultier-Treiber zu überreden, ihnen ein bisschen Platz im Schuppen auf dem Boden zu geben, wofür die Kinder den Maultieren Gerste brachten, an der die Tiere lange herumkauten, über ihr trübes Dasein nachdenkend.
Bei Sonnenaufgang standen Minkah und Shmulik bereits am düsteren niedrigen Bau mit einem schmalen Fenster-Einschnitt, der Kerker genannt wurde. Shmulik konnte beim Blick durch die Öffnung kaum die Tränen zurückhalten: das leidende tapfere Gesicht Shimshons mit Wunden dort, wo die Augen gewesen waren. Die Philister hatten eine solche Angst vor der unglaublichen Kraft dieses Juden, dass sie beschlossen hatten ihn erblinden zu lassen, auch wenn sie ihn bereits in Ketten gelegt hatten.
„Shmulik, Minkah“, sagte Shimshon leise mit rauer Stimme, „habt keine Angst, alles kommt so, wie es kommen muss. Schließlich bin ich Nasiräer* und dazu unglaublich stark. Habt ihr davon gehört, wie ich einst mit meinen bloßen Händen das Maul eines Löwen zerrissen habe, als sei er ein Zicklein gewesen? Seht ihr?!“ Und der Gefangene streckte seine Hand durchs Fenster, mit einer breiten, lang verheilten Wunde.
Minkah schaffte es, ihm eine Handvoll Gerste zuzustecken, damit der Richter sich wenigstens ein bisschen stärken konnte.
„Und wie ich tausend Feinde mit nur einem Kiefer eines Esels besiegt habe?!“, rief Shimshon aus und fügte bitter hinzu: „Nur die Frau, die ich geliebt habe, hat mich verraten, indem sie meine Haare abgeschnitten hat – auch wenn sie wusste, dass meine Kraft in den Haaren liegt.“
„Delilah?“, fragte Shmulik, „sie bereut es, glaub mir, ich habe es selbst gesehen!“
Damit wurde ihr Gespräch unterbrochen, denn die Krieger kamen, um Shimshon zu holen, um ihn in ihren Tempel zu bringen, zum Fest des Sieges über den gefährlichen Feind, aus Dankbarkeit gegenüber dem Philister-Gott Dagon. Ja genau, demselben mit dem menschlichen Kopf und dem Körper eines Fisches. Diese Wilden brauchten Shimshon ja nur dafür, um sich über seine Blindheit und seine verlorene Kraft lustig zu machen.
Shmulik und Minkah beschlossen, nicht hinter der lauten Prozession zurückzubleiben, in der Hoffnung, dass der unglückliche Gefangene sie noch brauchen konnte. Die Kinder kamen zusammen mit allen in das Heiligtum des Feindes, schweren Herzens die Heiterkeit beobachtend und wie der blinde Richter dastand, stolz aufgerichtet. Seine Haare waren innerhalb einiger Tage ein wenig nachgewachsen und damit kehrte auch seine Kraft zurück.
Und plötzlich hörten sie, wie Shimshon ausrief: „Lieber G“tt! Erinnere dich an mich und mach mich stark, damit ich mich diesmal bei den Philistern für meine beiden Augen rächen kann!“
Danach drehte er sich zu Shmulik und Minkah um und befahl: „Lauft schnell von hier weg und bleibt draußen, und das so weit weg wie möglich! Vergesst mich nicht, Kinder, und erzählt euren Kindern davon, was ihr sehen werdet!“
Die Kinder rannten in den Hof hinaus, ihre Herzen hämmerten laut vor Aufregung.
Und dann bewegte Shimshon, sich aus letzter Kraft anstrengend, zwei Säulen, die das ganze Gebäude trugen, und der Tempel stürzte ein, über ihm selbst und über Hunderte sich freuender Feinde, und begrub sie unter seinen Trümmern.

Nachdem der dichte Staub sich gelegt hatte, hörte man in der plötzlich eingetretenen Stille nur das Schluchzen von Minkah.
„Lass uns gehen“, Shmulik umarmte ihn fest, „es ist Zeit nach Hause zurückzukehren, Brüderchen. Wir haben unserem Volk einiges zu erzählen.“
„Wusstest du, dass der Name Shimshon von dem Wort „sonnig“ stammt?“, fragte Minkah traurig, während die Kinder am Ufer des Wassers in das Sorek-Tal gingen.
Shmulik antwortete nicht, er blinzelte in die Mittagssonne und versuchte sich mit dem Ellenbogen vor ihr zu schützen.
Tanja Lieberman
Illustratorin: Olena Fradina