Adam

Beinahe ein Midrash

Das, was jedes Mal mit Shmulik und Minkah nach dem gemeinsamen Auszug aus Mizraim geschah und sie an die unglaublichsten Orte der Geschichte der Menschheit schleuderte, konnte man nicht als Zeitmaschine bezeichnen und auch nicht mit irgendeinem Wort, das eine technische oder mystische Bewegung durch den Raum beschreibt. Nein, nein, es schien, als seien die Kinder auf G“ttes Welt gekommen, nur um mit ihren klaren Augen die Bedeutung der Ereignisse für alle kommenden Jahrhunderte zu bezeugen.

So war es auch diesmal, als hätte irgendeine unsichtbare Kraft sie gezwungen, für einen Augenblick die Augen zu schließen, und – oh Wunder!

„Shmulik, wer ist das?!“, rief Minkah erschrocken aus und schaute auf die großen hellen Wesen mit Flügeln auf den Rücken, die auf dem Berg standen. Es schien, als würden sie sich mit den Köpfen gegen den Himmel stemmen.

Shmulik schaffte es noch zu flüstern: „Ich denke, es sind Engel.“

Und auf einmal sprach eine laute Stimme, die den ganzen Raum zu erfüllen schien: „Erster Tishrej, Tag sechs, Berg Moria. Nun, wollen wir den Menschen erschaffen?“

Und schon ging es los:
„Aber was, wenn er alle anlügen wird?“
„Erschaffen wir ihn, was ist denn, er wird gut und barmherzig sein!“
„Sein Leben wird kurz und voller Leiden sein, wozu soll er leben?“
„Sind wir zu wenige und braucht man noch jemanden Unvorhersehbaren?!“

Doch die mächtige Stimme stellte fest:
„Ich bin bereit, den Menschen zu erschaffen und ihn zu lieben, ungeachtet aller seiner Schwächen. Er wird nach unserem Bild und Beispiel geschaffen und sein Verstand wird besonders sein, seine Seele aber unsterblich. Wenn er meinen Willen ausführen und das g“ttliche Bild in sich tragen wird, wird er über die Tiere herrschen. Aber wenn nicht…“

„Was denkst du“, fragte Minkah Shmulik, während alle eifrig Erde in Körben füllten. Warum hat Hashem den Menschen nicht am allerersten Tag erschaffen?“

„Nun, ich denke“, Shmulik, der vor Aufregung verschwitzt war, zuckte mit den Schultern, „ganz am Anfang hat er das Nötigste für den Menschen erschaffen: den Himmel, die Erde, Pflanzen und Tiere. All das, damit der zukünftige liebste Sohn ein möglichst leichtes und fröhliches Leben hat.“ Und sofort fügte er mit listig zusammengekniffenen Augen hinzu: „Schau mal, du und ich hatten nie Spielzeug, doch wenn wir eigene Kinder haben, werden wir ihnen die großartigsten Geschenke machen, nicht wahr?“

Vor den Augen der erstaunten Anwesenden begannen die Erde und der Ton aus der babylonischen Gegend, aus dem Boden von Eretz Israel und aus den unterschiedlichsten Orten auf der Welt, gemischt mit dem Wasser aus allen Ozeanen, zusammenzuwachsen, als hätten in ferner Zukunft ausgedachte Puzzles beschlossen sich zu etwas Einheitlichem, Vollständigem zu sammeln.

Nachdem Hashem dem ersten Menschen leicht in die Nase gepustet hatte, zuckte die dunkle liegende Gestalt zusammen, bewegte die Arme und Beine und nach einigen Versuchen, stand ein dunkler hochgewachsener junger Mann auf, mit ungewöhnlich weichen braunen Augen – er war etwas erschrocken und traute sich nicht, als erster zu sprechen.

Die wartenden Engel schwiegen.

Minkah hielt es nicht aus und rief zum jungen Mann:
„Geh schneller, siehst du den leuchtenden Weg hinter unseren Rücken? Du wirst in einem wunderschönen Garten leben, komm schon!“

Der Mensch wurde plötzlich blass und murmelte:
„Ich kann nicht. Bitte. Lasst mich hier. Ich bin nicht gut genug, um an einem so blendend sonnigem Ort zu leben.“

Und nun begannen alle, sowohl die Engel als auch die Kinder, im Chor und durcheinander auf ihn einzureden, um ihn zu überzeugen, in den für ihn bestimmten Garten zu gehen, der voll mit duftenden Blumen, an Früchten reichen Bäumen und sprechenden Vögeln war.

„Hab‘ keine Angst“, sagte Shmulik und schaute dem Neugeborenen dabei in die Augen. „Das Wichtigste ist, dass dein Vater in deiner Nähe sein wird. Du wirst ihn sehen und hören und das ist so wunderbar. Minkah und ich werden das – in vielen Tausend Jahren – nicht mehr können, Er wird sein Gesicht verstecken. Nimm die Gabe an, geh.“

Und der erste Mensch hörte auf die Kinder, umarmte sie fest zum Abschied und sie sahen noch eine Weile die Gestalt, die sich ins Licht bewegte, das Gehen nicht gewohnt, schwankend bei dem kleinsten Hauch des warmen Windes.

Shmulik und Minkah wollten nicht gehen und saßen niedergeschlagen, am Fuß des Bergs und schlangen die Arme um die Knie. Es schien, als warteten sie auf Nachrichten, von denen die Zukunft der Menschheit abhing. Sie schraken hoch und sprangen auf, kaum dass sie das Rascheln der Flügel hörten, welche die Luft durchschnitten. Einer der Engel, die den Menschen nach Gan Eden begleitet hatten, hatte sich der Kinder erbarmt und war zurückgekehrt, um ihnen von den Ereignissen zu berichten.

„Ha-hashem“, stotterte der Engel, „bat den Menschen, sich selbst einen Namen zu geben und der sagte, ohne nachzudenken: Adam. Wie die Erde, Adama. Dann ging er weiter, schaute sich lange die Tiere an, staunte, streichelte sie, und gab auch ihnen Namen. Adam hat uns allen gezeigt, wie klug er ist und dass er die Besonderheiten der unterschiedlichen Lebewesen begreifen kann.“

Dabei lächelte der Engel traurig: „Wir aber können keine Namen geben. Er streichelte das graue sture Tier und sagte, dass es Hamor (Esel – חמור) heißt. Dann stieg er auf den Rücken des Pferdes und rief: sus! (Pferd – סוס) worauf das Pferd zustimmend nickte. Und das kauende zweihöckrige Wesen nannte er Gamal (Kamel – גמל). Und am Ende, als Adam das rote majestätische Tier sah, verstand er, dass es der König der Tiere war, und gab ihm den Namen Arje (Löwe – אריה).“

„Alles klar“, Shmulik atmete befriedigt aus. „Die weitere Geschichte wird ihren Lauf nehmen, vielleicht statten wir beim nächsten Mal dem Garten Eden einen Besuch ab, aber für heute ist es genug. Wir müssen nach Hause.“

„Ja“, stimmte Minkah zu. „Der Mensch ist klasse geworden, alles Weitere ist Sache seiner freien guten Wahl.“

Und der Wind der Zeiten ergriff in diesem Moment die müden Kinder, brachte sie mit seinem monotonen Lied zum Einschlafen und führte sie dorthin, wo der süße und ruhige Schlaf ohne Pause bis zum Morgen dauerte. Den Engel, der ihnen lange hinterherwinkte, sahen sie nicht mehr.

Tanja Lieberman
Illustratorin: Olena Fradina