Eine Exkursion – oder ein kurzer Blick in die Geschichte
Am 16. Oktober fand für die Frauengruppe der Jüdischen Gemeinde des Kreises Recklinghausen eine Führung zu den Recklinghäuser Gedenkstätten statt, die historisch mit jüdischem Leben verbunden sind. Daran nahmen nicht nur Mitglieder unserer Gemeinde teil, sondern auch ukrainische Bürgerinnen und Bürger, die sich vorübergehend in unserem Landkreis aufhalten.
Unser Reiseführer, Herr Arno Straßmann, zeigte uns sehr viel und erklärte dazu ausführlich aus seinem Wissensfundus. Seine Ausführungen haben natürlich großes Interesse geweckt und außerdem lebhafte Reaktionen hervorgerufen. Danke an Herrn Straßmann für die aufschlussreiche und beeindruckende Führung.
Einige von uns leben schon seit mehreren Jahren hier, aber wir erfuhren im Rahmen dieser Exkursion zum ersten Mal viele Fakten über das Leben der Juden in der Stadt. Leider waren diese Fakten, wie auch die gesamte Geschichte des Weltjudentums, für unsere Wahrnehmung nicht erfreulich und angenehm. Im Gegenteil, sie lösten in unserer Gruppe traurige Reflexionen und Assoziationen mit der Gegenwart aus.

Arno Straßmann, Reiseführer
Die Stadt Recklinghausen ist über 1000 Jahre alt. In den Geschichtsaufzeichnungen dieser Stadt wird erstmals im 14. Jahrhundert jüdisches Leben erwähnt und es steht im Zusammenhang mit dem Schwarzen Tod – der zweiten Pestepidemie der Geschichte. Jüdische Einwohner der Stadt wurden für die Verbreitung der Seuche verantwortlich gemacht und hingerichtet.
Die Lage der Juden in der Stadt unterschied sich im Laufe der Jahre im Allgemeinen kaum von jener der Juden in anderen deutschen Städten. Von der religiösen Duldung im zehnten und elften Jahrhundert bis hin zu Verfolgung, Verhexung, Entrechtung und Pogromen noch zur Anfang des neunzehnten Jahrhunderts wurde jüdisches Leben geprägt. Erst die Große Französische Revolution schuf andere Voraussetzungen. Außerdem entstand durch die Revolution von 1848 in Deutschland eine Gesellschaft, in der für die Entrechtung der Juden kein Platz mehr war. Die Weimarer Verfassung von 1919 schaffte jegliche Diskriminierung ab und stellte die Juden allen deutschen Bürgern gleich. Juden fühlten sich wieder als Bürger, als Patrioten ihres Landes. Sie nahmen aktiv in allen Bereichen des Lebens in Stadt und Land teil, verteidigten es sogar auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges. Sie positionierten sich nicht nur als Juden, sondern als deutsche Juden. Interessanterweise wurden nach Angaben des Stadtarchivs bei der Eröffnung der jüdischen Schule am 2. Juli 1908 „patriotische Lieder“ in deutscher Sprache gesungen. Einige jüdische Familien genossen Einfluss in der Stadt und waren bekannt und geachtet. Dies war bis 1933 der Fall, also bis zum Beginn des Holocaust.

Selma und Robert Markus, ihre Töchter Ilse (11 Jahre alt) und Ruth (9 Jahre alt) wohnten im Stadtzentrum am Steintor 12. Hier war auch ihr Gemüseladen. Ganz in der Nähe befinden sich jetzt „Stolpersteine“ mit ihren Namen und Lebensdaten.
Die Familie war in der Stadt sehr bekannt und geachtet. Robert Markus wurde für seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg, in dem er für Deutschland kämpfte, mit militärischen Ehren ausgezeichnet. Er wollte nicht auswandern, weil er glaubte, dass seine Verdienste für das Vaterland von der „neuen Macht“ berücksichtigt werden würden. Entsprechende Papiere zeigte er den SA-Schergen, die in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in sein Haus eindrangen. Sie warfen jedoch die Nachweise unbeachtet auf den Boden, trampelten darauf herum und begannen, die Menschen zu misshandeln und das Haus und den Laden zu zertrümmern. Die Familie Markus wurde aus ihrer eigenen Wohnung vertrieben. Von da an wohnten sie in einem Zimmer in der Kellerstraße 1, einem der fünf „Judenhäuser“, in welche die Unglücklichen verbracht wurden. Von dort deportierte man sie schließlich am 24. Januar 1942 in das Ghetto von Riga.


Während unseres zweistündigen Ausflugs haben wir mannigfaltig Schreckliches und Trauriges gehört. Wir besuchten die Gedenkstätte für die Juden von Recklinghausen – Opfer des Naziregimes, wo sich die von den Nazis in der Kristallnacht in Brand gesteckte Synagoge befand.
Leider leben wir aktuell in einer für uns alle sehr schwierigen Zeit. Der heimtückische Angriff von Hamas-Terroristen auf Israel hat die Menschheit erschüttert. Die Welt hat sich aufgeteilt in Vorher und Nachher, Pro und Kontra. Noch nie seit dem Holocaust wurden so viele Juden ermordet, noch nie gab es so viele antisemitische Parolen und offen getragene, unverschleierte Drohungen gegen Juden in aller Welt und insbesondere in Deutschland. Ich möchte den Worten von Olaf Scholz Glauben schenken: „Antisemitismus hat in Deutschland keinen Platz und wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um ihn zu bekämpfen. Wir werden dies als Bürger tun, die eine politische Verantwortung tragen.“
Irina Barsukova, Jüdische Gemeinde Kreis Recklinghausen
Foto: Archiv JG Kreis Recklinghausen