Chanukka

Beinahe ein Midrash

Minkah saß auf einem kleinen Erdhügel im Schatten des Grüns und betrachtete den gut sichtbaren Tempel in der Ferne. Die hellen Steine schienen in den heißen Sonnenstrahlen zu glitzern. Bei sich zuhause in Ägypten hatte er mehr als einmal den Palast des Pharaos und die reichen Häuser der Würdenträger gesehen; doch eine solch erhabene und anziehende Schönheit wie den Jerusalemer Tempel hatte er noch nie erblickt.

„Ich wünschte, dieser Ort würde mich als dazugehörig ansehen“, dachte Minkah traurig, während er sich bemühte, in Gedanken möglichst weit weg zu gehen von den Kindheitserinnerungen an Ägypten.

Rabbi Nathan und Shmulik hatten ihn an dem ungefährlichen Ort gelassen, damit er die syrischen Krieger beobachten konnte, die an den Mauern des Tempels hin und her liefen. Von Zeit zu Zeit stellten sie sich wie Ameisen in einer Reihe auf und übergaben einander goldene Menoroth, Tora-Rollen und Stücke des zerschlagenen Altars, die sie aus den heiligen Räumen der Juden gestohlen hatten. Andere Krieger dagegen schleppten, nachdem sie sich zu Gruppen versammelt hatten, schwere Statuen griechischer Götter (den Syrern selbst war der griechische Glaube aufgezwungen worden) und stellten sie überall auf, wo sie einen freien Platz fanden.

Die riesige Statue Zeus‘, des stärksten olympischen Gottes, stand weit entfernt, doch auch auf die Entfernung hin waren das Zepter mit einem Adler und die eisigen blinden Augen dieser seltsamen Figur zu sehen, die nichts mit dem lebendigen und liebenden Vater des jüdischen Volkes gemeinsam hatte.

„Minkah“, flüsterte Nathan hinter seinem Rücken, „lass uns gehen, gleich wirst du etwas sehen.“

Die drei Zeitreisenden gingen hinunter in ein kleines Dorf, nicht weit von Jerusalem, und machten sich auf zum tönernen Bauwerk, an dessen Eingang der Vater der großen Familie Benjamins auf sie wartete. Er winkte mit der Hand in die Richtung der fünf Kinder hinüber, die einer störrischen mit dem Kopf wackelnden Ziege hinterherrannten, und sagte traurig:
„Uns allen wurde befohlen, gleich heute an die Türen unserer Häuser zu schreiben „Wir schwören dem G“tt Israels ab“. Wie konnte ihnen so etwas nur einfallen? Mir und meiner Frau ist es egal, was sie mit uns machen, wenn wir nicht gehorchen, doch wie kann man die Kleinen vor dem unausweichlichen Tod retten …“

Und plötzlich sprang Shmulik auf und klatschte sich die schmutzige Hand vor die Stirn.

„Ich hab’s! Nimm die Tür raus und schmeiß sie weg, Onkel, Benjamin – wenn es keine Tür gibt, hast du nichts, worauf du schreiben kannst. Und dann wird es niemand wagen, dich zu bestrafen.“

Der unerwartete Vorschlag brachte alle zum Lachen, auch wenn die Situation der durch den König Antiochus versklavten Juden bei Weitem nicht lustig war, und sie versprachen, der ganzen Siedlung Bescheid zu geben, was zu tun war.

Am nächsten Tag, frühmorgens, ging der schlaftrunkene und aufgedunsene syrische Krieger von Haus zu Haus, in der Hoffnung die Feigheit der Juden zu sehen und später seinen Anführern davon berichten zu können, doch er fand an keinem einzigen Haus eine Tür mit der Inschrift über die Abkehr vom Allm-chtigen. Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut, er schüttelte seine Faust jemand Unsichtbarem in der Luft entgegen, doch er konnte nichts tun und ging unverrichteter Dinge davon.

„Jetzt werden wir weder am Tag noch in der Nacht ruhig leben können“, sagte Benjamin danach den Zeitreisenden, während er trockene Fladenbrote und Oliven an sie verteilte, „denn unsere Häuser ohne Türen werden für Diebe und Banditen geöffnet sein. Aber dafür haben wir nichts Schlechtes getan, was Sein Vertrauen in uns völlig vernichtet hätte.“

Es vergingen noch ein paar Tage und Antiochus hatte sich eine weitere Verspottung ausgedacht. Auf jedes Tier – Rind, Widder oder Ziege – sollten die Juden denselben schrecklichen Satz schreiben: „Wir schwören dem G”tt Israels ab“.

Als er das hörte, sagte Rabbi Nathan, den Benjamin zusammen mit den Jungen so herzlich bei sich aufgenommen hatte, bestimmt:
„Also los, meine Lieben, verkauft all euer Vieh, und das so schnell wie möglich. Oder lasst es frei, in die Felder und in die Wälder. Aber lasst es, um der Bestrafung zu entgehen, nicht in euren Höfen.“

Die Juden waren gezwungen, ihr Vieh schnellstens abzugeben und weiter mit ihren Familien ohne Milch und ohne Fleisch zu leben. Mehr als das: Weil sie ohne Rinder geblieben waren, konnte man nicht einmal mehr die Erde umpflügen, um etwas anzupflanzen.

Und dann kam Minkah zur Hilfe, indem er den Pflug anstatt eines Rindes hinter sich herzog. Er tat es mit einer solchen Kraft, dass die Venen an der Stirn und am Hals des Jungen anschwollen. Als Shmulik dies sah, ging er hinterher, mit Hilfe eines Handgriffs grub er den Pflug tiefer in die Erde und führte ihn. Dann kamen auch andere Dorfbewohner dazu und die Sache wurde etwas leichter – die trockene Erde gab den gemeinsamen Bemühungen nach und es keimte Hoffnung auf, dass die Linsen zur gewohnten Zeit in der aufgeweichten Erde reif werden.

Shmulik zeigte den Kindern aus dem Dorf, wie man unter den Gräsern die keimenden Pflanzen erkennt: Koriander und Minze, Lauchzwiebeln und Knoblauch – und es stellte sich heraus, dass wenn man Gräser, Oliven, Honig und verschiedene Früchte kombiniert, man durchaus einige Zeit ohne fleischige und milchige Speisen auskommen kann.

Und dann rief Rabbi Nathan an einem der nächsten Tage Benjamin und die Kinder auf denselben Berg, wo Minkah die Bewegungen der syrischen Soldaten beobachtet hatte.

„Was ist das?!“, schrie Shmulik los, mit dem Finger auf die zerstörte Zeus-Statue deutend. „Schaut mal, die Unseren verjagen den Feind, die Syrer laufen davon!“

Das halb zerschlagene Auge des olympischen Gottes schaute genauso tot durch die Gegend.

Und Rabbi Nathan stimmte ein:
„Darauf haben wir gewartet, hier ist er, Jehuda, der Makkabäer! Schau, Benjamin, er kämpft gemeinsam mit den Brüdern direkt vor den Toren unseres Tempels, schon sehr bald geschieht ein Wunder.“

Die Kinder hatten nun vor niemandem mehr Angst, klatschten in die Hände und schauten dem Vorstoß der Helden zu. Es lächelte auch der alte Nathan, der vieles von dem im Voraus wusste, was gewöhnlichen Menschen verborgen ist.

Abends wurde der riesige Kerzenleuchter entzündet – eine neue hölzerne Menora, die gleich nach der Befreiung der Juden geschnitzt worden war. Die Öllichter brannten im Altar, doch die grellen Lichtstrahlen durchdrangen die Wände des Tempels und die Dunkelheit, die sich um ihn herum zusammenbraute. Unsere Helden wollten nicht auseinandergehen, auch wenn es immer kühler wurde.

„Es ist Zeit, sich von Benjamin zu verabschieden, Kinder.“ Der Rabbi umarmte sie an den Schultern. „Und sorgt euch nicht, das Licht wird noch ganze acht Tage brennen, auch wenn im Gefäß ganz wenig Öl übriggeblieben ist. Doch dieses Licht ist für uns und wegen uns, nicht wahr?“ Er beugte sich leicht vor, um Shmulik und Minkah in die Augen zu schauen.

„Danke euch, meine Freunde“, sagte Benjamin, wobei er sich bemühte, die Tränen zurückzuhalten – und begann, den Berg schnell hinabzusteigen, um so schnell wie möglich die frohe Kunde seinen Kindern zu bringen.

Tanja Lieberman
Illustratorin: Olena Fradina