Zwi Rappoport,
Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe K.d.o.R.

Liebe Gemeindemitglieder,
liebe Freunde,
der 7. Oktober 2023 war ein Tag, der alle anständigen Menschen auf der ganzen Welt schockiert und tief erschüttert hat. Deshalb habe ich in meiner Gedenkrede im Dortmunder Opernhaus – anlässlich des 85. Jahrestages des 9. November – in erster Linie über diese erneute Katastrophe gesprochen, die über unser Volk hereingebrochen ist.
Dabei habe ich zunächst über die Flucht meines Vaters aus Nazi-Deutschland in das damalige Mandatsgebiet Palästina berichtet. Dort bin ich 1946, zwei Jahre vor der Gründung des Staates Israel geboren. 1954 sind wir nach Münster zurückgekehrt, die Stadt, aus der mein Vater vertrieben worden war. In meiner Gedenkrede heißt es weiter:
„Meine Mutter war über den Entschluss meines Vaters, nach Deutschland zurückzukehren, sehr unglücklich. Zu tief war die Kluft zwischen ihr als Jüdin und ihrer nicht-jüdischen, deutschen Umwelt. Den Sieg der Alliierten über Hitler-Deutschland empfanden die meisten Deutschen damals als Zusammenbruch und Niederlage und nicht – wie sie – als Befreiung. Das Nachkriegsdeutschland war für sie, wie sie sich einmal ausdrückte, „ein riesiger jüdischer Friedhof“, in dem die Täter weiterlebten. Bei jedem halbwegs erwachsenen Menschen musste man sich fragen: Was hat dieser oder jener wohl während der Nazizeit getan? Gibt man wohl möglich einem Mörder die Hand?
Ich schildere diese Gedanken und Gefühle meiner Mutter so ausführlich, weil sie deutlich machen: Mit dem 8. Mai 1945 waren Nazismus und Antisemitismus keineswegs verschwunden. Vielmehr gab es eine braune Kontinuität, die es den NS-Eliten erlaubte, ihre Karrieren im Nachkriegsdeutschland fortzusetzen und selbst die höchsten Staatsämter zu besetzen. Zudem führte die tiefe Verstrickung weiter Teile der deutschen Gesellschaft in den Komplex der Enteignung, Entrechtung und Vernichtung der Juden dazu, dass die nationalsozialistischen Verbrechen verdrängt, verschwiegen oder geleugnet wurden.
Dieses moralische Versagen der deutschen Gesellschaft nach 1945 hat der Schriftsteller Ralph Giordano die zweite Schuld genannt.
Heute, einen Monat nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel, frage ich mich, ob die deutsche Gesellschaft nicht im Begriff ist, eine dritte Schuld auf sich zu laden.
Da wird das Land, das von den Holocaust-Überlebenden und ihren Nachfahren aufgebaut wurde, brutal überfallen. An einem Tag werden so viele Menschen ermordet wie seit dem Holocaust nicht mehr. Die Hamas-Terroristen töten wahllos wehrlose Menschen gleich welchen Alters oder Geschlechts. Ganze Familien werden gemeinsam erschossen oder in ihren Häusern lebendig verbrannt. Babys werden enthauptet, Frauen vergewaltigt, ihre Leichen geschändet.
Zudem verschleppen die Terroristen mindestens 240 Menschen jeden Alters, die nun in den unterirdischen Tunneln in Gaza gefangen gehalten werden.
Und wie reagiert die deutsche Öffentlichkeit auf diese furchtbare Katastrophe, die die Juden in Israel, in Deutschland und in der ganzen Welt bis ins Mark getroffen hat?
Es gibt einige Solidaritätsbekundungen und Pro-Israel Demonstrationen mit viel zu wenigen Teilnehmern. Dass Israels Sicherheit und der Schutz jüdischen Lebens deutsche Staatsraison sind, fehlt in keiner Politikerrede.
Draußen im Land aber sieht das Bild ganz anders aus.
Judenhass in all seinen Erscheinungsformen explodiert auf deutschen Straßen. Seit dem Terrorangriff der Hamas sind die antisemitischen Straftaten in Deutschland sprunghaft gestiegen. Die Pro-Palästina Demonstrationen mutieren regelmäßig zu Pro-Hamas Veranstaltungen, bei denen die Terroristen bejubelt und als Widerstandskämpfer gefeiert werden.
Wir fragen uns voller Sorge: Müssen wir nach dem versuchten Massenmord eines Rechtsextremisten in Halle 2019, der nur durch eine massive Holztür verhindert wurde, nun mit einer ähnlichen Bedrohung von muslimischer Seite rechnen? Oder von Linksextremisten? Oder von allen gemeinsam? Das ist keine Panikmache!
Solche unheiligen Allianzen zwischen linkem, rechtem und islamistischem Antisemitismus werden immer häufiger auf Demonstrationen sichtbar.
Und wo bleibt die Unterstützung der deutschen Zivilgesellschaft, die beim Angriff auf die Ukraine noch Solidarität und Mitmenschlichkeit gezeigt hat?
Wo bleibt der kollektive Aufschrei, wo sind die Lichterketten, wo sind die Kirchen, die Gewerkschaften, die Wirtschaftsverbände? Wo sind die Künstler, die Vereine, die Schulen, die Universitäten und die Intellektuellen? Und wo sind die Musiker, die sich doch mit den 260 Jugendlichen solidarisieren müssten, die auf einem friedlichen Open-Air-Musikfestival von der Hamas regelrecht abgeschlachtet wurden?
Dieses kalte Schweigen, diese mangelnde öffentliche Anteilnahme, diese Gleichgültigkeit vieler Menschen ist beschämend und macht uns fassungslos. Wir fühlen uns weitgehend allein gelassen.
Dabei ist der Angriff auf Israel und die Jüdische Gemeinschaft in Deutschland ein Angriff auf uns alle und unsere gemeinsamen Werte, wie Menschenwürde, Menschlichkeit und Toleranz.
Diese Grundwerte unserer liberalen Demokratie sind in großer Gefahr!
Wir erinnern heute an die Reichspogromnacht vor 85 Jahren.
Der 9. November 1938 ist uns ein immerwährendes und mahnendes Beispiel dafür, welche schrecklichen Folgen Untätigkeit, Schweigen und Wegducken haben können.
Deshalb gilt:
Wer heute schweigt, macht sich mitschuldig. Wer heute schweigt, wird morgen selber betroffen sein.
Wir brauchen viel mehr Engagement, Mut, Unterstützung und Entschlossenheit aus der Mitte der Gesellschaft.
Nie wieder ist jetzt.