Der Gerechte – die Grundlage der Welt
Es gibt auf der Erde – und hat es immer gegeben – sechsunddreißig Gerechte, deren Aufgabe es ist, die Welt vor G”tt zu rechtfertigen. Sie sind die Lamed-wownikess. Ohne es zu wissen, sind sie die geheimen Pfeiler, die unsere Welt stützen. Ohne ihre Fürsprache würde G”tt die menschliche Rasse vernichten. Sie sind unsere Retter und sie wissen selbst es nicht.
Jorge Luis Borges

In der kabbalistischen Numerologie geht man davon aus, dass die Zahl 36 aus der antiken Astrologie stammt, in der die 360 Grad des Himmelsgewölbes in 36 Einheiten, die Dekane, unterteilt wurden, die als Wächter des Universums galten
Die Geheimnisse der Gerechten, die versteckt vor neugierigen Augen und auf der ganzen Welt verstreut waren, existierten in der jüdisch-mystischen Tradition seit langer Zeit, aber erst im 18. Jahrhundert bekam die Legende ein Leben in dieser Form: Zur Zeit des Galut, angefangen mit der Zerstörung des Tempels und bis zum heutigen Tag gab und gibt es in jeder Generation des jüdischen Volkes Menschen, die vom tiefsten Herzen G-tt treu sind – die Zaddikim (צדיקים), deren zahlenmäßige Stärke 36 beträgt. Sie verfügen nicht unbedingt über reichliche Thora-Kenntnisse, erreichen keine weltlichen und materiellen Höhen, ganz im Gegenteil – der größte Teil der versteckten Zaddikim oder Lamed-Vavniki (in Jiddisch „Lamed-wownikess“, dieses Wort stammt aus den Aufzeichnungen der Zahl 36 in der Gematria und den Buchstaben lamed [30] und waw [6]) – sind arme Handwerker, Holzfäller, Wasserträger oder Bettler. Auf der einen Seite schafft es nicht einer, die verborgene Art der Unglücksraben zu enträtseln und niemand bedenkt dabei die Sprüche Salomos: „Der Gerechte – Grundlage der Welt“ und erst recht wird keiner sagen, dass die Welt bis heute noch durch die Verdienste der 36 Lamedvovnikess existiert (es wird gesagt, dass, wenn ihre Zahl nur um einen abnimmt, die Sünden der Menschheit massiv überwiegen werden und dies uns im Nachhinein zum Ende der Welt führe).
Man findet nur sehr wenig an Information über die Lamedvovnikess und es scheint so richtig zu sein, denn unter diesem geheimnisvollen Schleier verbirgt sich etwas Wichtiges und Heiliges, etwas, was sich nur in den extremsten Momenten des Lebens manifestiert.
Im Jahre 1959 wurde der Autor des Romans „Der letzte der Gerechten“, André Schwarz-Bart, zum Preisträger des renommierten französischen Literaturpreises Prix Goncourt erklärt. André Schwarz-Bart war ein französischer Schriftsteller, dessen Eltern polnisch-jüdischer Abstammung waren und nach Auschwitz deportiert wurden. Schwarz-Bart trat in eine Widerstandsgruppe ein, wurde dabei von den Nationalsozialisten verfolgt und verhaftet, schaffte es aber, ihnen zu entkommen, schloss sich im Nachhinein den Partisanen an und kämpfte bis zum Ende des Krieges. Dies sind seine Worte aus einem der Kapitel:
„ […] über die altjüdische Legende, über die Lamedvovnikess, welche von einigen talmudischen Gelehrten auf den Anfang des jüdischen Kalenders bezogen wurden, zu den geheimnisumwitterten Tagen des Propheten Jesaja. Seitdem flossen Flüsse voller Blut, Rauchsäulen stiegen zum Himmel, aber durch den Abgrund und den Schlund hat die Legende unsere Tage erreicht. Nach dieser Legende basiert die Welt auf sechsunddreißig Gerechten, den Lamedvovnikess. Nichts unterscheidet sie von gewöhnlichen Sterblichen. Sie sind sich oft nicht bewusst, dass sie die Gerechten sind. Doch gäbe es nicht in jener Generation mindestens einen, so würde das Menschenleid sogar die Seelen der Kinder ermorden und so würde die Menschheit im Schrei der Verzweiflung ertrinken. Für die Lamedvovnikess ist das Herz der Menschheit ein riesiger Behälter, in welches unsere Leiden strömen. Tausende von Volksgeschichten erzählen von Lamedvovnikess und somit wird ihre Existenz überall anerkannt. In einer der ältesten Texte der Haggada wird gesagt, dass die unglücklichsten von ihnen diejenigen sind, denen es nicht bekannt ist, dass sie die Gerechten sind. Die Welt erscheint ihnen als eine unerträgliche Hölle. Im VII. Jahrhundert verehrten die andalusischen Juden einen Felsen in Form einer Träne, denn sie glaubten, es sei die vor Qual versteinerte Seele eines Lamedvovnik, der sich nicht erkannte. Nach chassidischer Tradition heißt es: „Wenn einer der Gerechten unerkannt in den Himmel kommt – ist seine Seele so kalt, dass G-tt sie tausend Jahre lang in Seinen Händen erwärmt, bevor sich dieser die Offenbarung des Paradies erschließt. Einige andere Seelen bleiben aber für immer untröstlich und sogar G-tt schafft es nicht, sie vom menschlichen Leiden zu erlösen und dann verkürzt der Schöpfer, gelobt sei Sein Name, die Stunde des Gerichts um eine Minute.“
Es wird angenommen, dass die Gerechten sich nur dann der Welt öffnen, wenn diese dringende Hilfe benötigt, wie zum Beispiel die Rettung der Gemeinschaft, die Intervention G-ttes oder die Vollendung des Wunders (in der Erinnerung erscheint direkt das inbrünstige Gebet von Rabbi Isaak aus dem brillanten Film von Ingmar Bergman „Fanny und Alexander“ – dank diesem Gebet hat er die Kinder gerettet).
Lamedvovnikess öffnen sich der Welt, doch dann verschwinden sie wieder und sind nicht mehr wieder zu erkennen. Einige Interpretationen sagen, dass wenn sich einer der versteckten Gerechten als Lamedvovnik bekennt, so stirbt er direkt auf der Stelle und sein Platz wird von einem anderen eingenommen. Es kam aber auch schon mal vor, dass das Volk „reale Personen“ als Lamed-vav-Zaddikim (ל“ו צדיקים) ansah, zum Beispiel einen chassidischen Zaddik Rav Yechiel Meir Lifschitz (1816-1888) aus Gostynin. Doch nur G“tt kennt die Wahrheit …

Jew with Torah, Marc Chagall, 1925
Im Jahr 1998 erschien ein hervorragendes Buch von Francine Prose „You never know: A legend of the Lamed-vavniks“. Dieses Buch wäre sowohl für Kinder als auch für Erwachsene äußerst unterhaltsam. Ich erzähle kurz diese Geschichte:
In der kleinen Stadt Plochnik gab es 40 Tage keinen einzigen Regentropfen. Eine Dürre entstand, die die Ernte bedrohte. In der Synagoge betete ein Rabbiner zu G-tt – Er solle Regen schicken. Zusammen mit ihm beteten ein Lehrer, ein Arzt, ein Anwalt und ein Bäcker. Am strahlend blauen Himmel erschien keine Wolke. Da hörte man in der Stille plötzlich die schüchterne Stimme von Samuel, ein Schuhmacher, welcher von allen als Narr bezeichnet wurde, denn er vergaß oft den Lohn für seine Arbeit zu nehmen und wenn er in der Stadt einem Bettler begegnete, so gab er ihm ein Paar Schuhe. Und nun erbat er die Erlaubnis mit den anderen zu beten: Oh, Herr, bitte schicke uns Regen. Im selben Moment hörte man das Donnergrollen, der zuvor blaue Himmel wurde dunkel und dann kam der lang ersehnte Regen. Die Freude des Rabbiners, Lehrers, Arztes, Anwaltes und des Bäckers war groß: G-tt hat unsere Gebete erhört. Der arme Samuel ging schweigend davon und summte lächelnd ein Liedchen vor sich hin. Es regnete 40 Tage lang. Das Wasser stieg bereits bis zur Schwelle der Synagoge. Dort versammelten sich die Menschen und beteten, dass der Regen aufhören soll. Doch die Gebete blieben unbeantwortet, bis die Bitte von Samuel im Dämmerlicht erhört wurde: „Oh Herr, bitte, lasse den Regen aufhören.“ So wurde die Katastrophe verhindert und die Sonne schien wieder am Himmel. Wie bereits beim letzten Mal ging Samuel ruhig nach Hause und alle anderen fragten sich gegenseitig: Warum? Warum erhört G”tt den Narren Samuel und nicht uns?
„Ich werde mir darüber Gedanken machen“, sagte der Rabbiner und in der gleichen Nacht hatte er einen seltsamen Traum. Er träumte von einer Menora mit sechsunddreißig Kerzen und einer Tür, welche zum Himmel führte. Diese Tür war von sechsunddreißig Sternen umgeben. Plötzlich verstand der Rabbiner, wie es zum Regen und zum Sonnenschein in der Stadt gekommen war. Am Morgen eilte er in die Synagoge und kündigte laut an:
„Hört alle! Ihr müsst wissen, dass unser armer Samuel einer der heiligen Lamed-Waw-Zaddikim ist!“
Nach dieser frohen Botschaft eilten alle zur Hütte des Gerechten – der Rabbiner, der Lehrer, der Arzt, der Anwalt und der Bäcker, aber im Haus fanden sie nur ein Schustermesser und ein Paar Schuhe, die er immer ohne einen Pfennig zu nehmen reparierte. Samuel war nirgendwo zu finden.
Wenige Monate später kam in die Stadt ein neuer Schuhmacher – Jakob. Er war sehr arm, doch niemand würde ihn „Jakob der Narr“ nennen.
Wer weiß, dachten sie alle, vielleicht ist er auch einer von den Lamed-Waw-Zaddikim, man weiß es nicht.
Die Gesamtzahl der Kerzen (außer der Dienstkerze – Schamasch), die wir während der Chanukkafeier anzünden beträgt 36 und dies soll unseren Glauben an die Lamedvovnikess stärken, denn sie tragen die Welt auf ihren Schultern.
Tanja Lieberman

Silitude, Marc Chagall, 1933