Rette die jüdische Seele
Streifzug durch die Geschichte
Vor exakt 30 Jahren, am 30. Dezember 1993 kam es zu einem Ereignis, das von der jüdischen Welt in den letzten 18 Jahrhunderten erwartet wurde. Bevor ich Ihnen von diesem Ereignis erzähle, möchte ich Ihnen eine wunderbare Geschichte erzählen, die in der klassischen Arbeit des berühmten britischen Historikers Sir Martin John Gilbert beschrieben wird – das Buch heißt „Holocaust Journey“.
Diese Geschichte brachte zahlreiche Journalisten zum Weinen, als sie diese von Rabbi Israel Meir Lau zu hören bekamen, der zu der Zeit das Amt des aschkenasischen Oberrabbiners von Israel bekleidete.
Rabbi Israel Meir Lau wurde von Papst Johannes Paul II. zur Sitzung am 21. September 1993 in die päpstliche Sommerresidenz Castel Gandolfo eingeladen.

Holocaust Journey von Sir Martin John Gilbert

Papst Johannes Paul II. und Rabbi Israel Meir Lau bei einem Treffen in der päpstliche Sommerresidenz Castel Gandolfo am 21. September 1993
In einem Interview mit dem bekannten religiösen Korrespondenten Terry Mattingly, sagte Rabbi Lau: „Ich und Papst Johannes Paul II. teilen so einige Erinnerungen … die Zeiten des Holocaust in Krakau.“
Israel Meir Lau war ein 8-jähriges Waisenkind, als er aus dem KZ Buchenwald entlassen wurde. „Der Papst kannte sogar meinen Großvater … Er erzählte mir während unseres Gesprächs, er erinnere sich sehr gut als dieser zu Fuß in die Synagoge am Shabbat ging, dabei war er von Kindern umgeben.“

Der 8-jährige Israel Meir Lau verlässt das Nazi-Konzentrationslager „Buchenwald“ nach seiner Befreiung.

Der spätere Rabbi, Israel Meir Lau, schwenkt eine selbstgebastelte Fahne, nachdem er das Schiff verlassen hat und auf dem Weg in das Internierungslager Atlit bei Haifa ist. Ganz links steht Naftali, der ältere Bruder von Israel Meir Lau. Auf der Fahne steht: „Wir sind die Jugend von „Agudat Israel“ aus Buchenwald“, 15. Juli 1945

Der 8-jährige Israel Meir mit einem Buchenwald-Überlebenden, dem Mithäftling Eliezer Schiff, an Bord eines Schiffes bei der Ankunft im Hafen von Haifa, dem späteren Staat Israel, am 15. Juli 1945.
Des Weiteren erzählte Rabbi Lau diese berühmte Geschichte:
Als die Nazis begannen die polnischen Ghettos im Winter 1942 zu reinigen, mussten die jüdischen Eltern Moses und Helen Heller eine schmerzhafte Entscheidung treffen.
Sie flohen nachts aus dem Ghetto, um ihren zwei Jahre alten Sohn Schachne zu der befreundeten Familie Yahnovich zu bringen. Es war ein kinderloses, katholisches Paar. Die Mutter bat sie, den kleinen Jungen aufzunehmen und gab ihnen die Adresse von Verwandten aus Washington.
Die Hellers wurden in kurzer Zeit verhaftet und mitgenommen. Sie wurden in ein Lager gebracht, das sich nur 40 Minuten Fahrweg entfernt vom Haus der Freunde befand. Das Lager wurde Auschwitz genannt.
„Drei Jahre vergingen“, sagte Rabbi Israel Lau „Der Zweite Weltkrieg endete, doch die Eltern kamen nicht zurück. Der Junge war ein guter Katholik, im Alter von vier Jahren kannte er bereits alle Sonntagsg-ttesdienst-Gebete auswendig. Er zweifelte nicht und war sich absolut sicher – er sei das Kind von Yahnovich. So dachten alle in der Umgebung …“
Die Familie Yahnovich entschloss sich Schachne zu taufen. Sie gingen in die nächste Kirche im Dorf Wadowice, in der sich ein junger Priester, Vater Karol Wojtyla, befand.

Helen und Moses Heller, 1939

Familie Yahnovich zusammen mit Schachne, 1944

Der junge Priester der Kirche im Dorf Wadowice, Vater Karol Wojtyla
Foto: 1944
Bevor es zu dieser Zeremonie kam, offenbarte Frau Yahnovich dem Priester die Vergangenheit des Jungen und sagte, dass sie dieses Kind liebt und es sei ihr Wunsch ihn bei sich und in der katholischen Kirche zu behalten und groß zu ziehen.
Vater Karol Wojtyla hörte genau zu und stellte schließlich nur eine Frage: „Was glauben sie, was würden die Eltern dieses Jungen bitten, sie zu tun?“
„Diese gläubige Katholikin war ehrlich“, sagte Rabbi Lau. Sie antwortete: „Ich muss mir nichts vormachen oder ausdenken. Ich erinnere mich sehr genau und werde es nie vergessen. Meine Freundin und Nachbarin Helen Heller stand in der Tür, warf einen letzten Blick auf ihr Kind und sagte mir: „Wenn G“tt uns nicht behüte, wenn wir nicht zurückkehren – bitte tun Sie alles, um Schachne in jüdische Hände zu geben.“
Der Priester traf eine feste Entscheidung – das Kind wird nicht getauft. Später wurde Vater Wojtyla Bischof, dann Erzbischof, Kardinal und im Jahre 1978 wurde er Papst Johannes Paul II.
Rabbi Israel Meir Lau sagte, dass er an diesem historischen Treffen in der päpstlichen Residenz in Castel Gandolfo Papst Johannes Paul II. nach 45 Jahren fragte, ob diese Geschichte wirklich wahr sei?!
„Ja, es war einer von mehreren Fällen“, sagte der Papst.
Darüber hinaus wusste der Papst, der Junge sei nach Amerika gegangen und wurde dort zum religiösen und frommen Juden.

Schachne in Montreal, 1949
Am 30. Dezember 1993, drei Monate nach diesem denkwürdigen Treffen unterzeichnete Israel und der Vatikan eine Vereinbarung über die Ratifizierung diplomatischer Beziehungen. Das Wichtigste aber daran ist, dass in diesem Dokument die Worte der Gültigkeit des Paktes zwischen G“tt und den Juden aufgezeichnet wurden und somit kam es offiziell zur Beendigung der missionarischen Tätigkeiten gegen das jüdische Volk – so entschied es der Papst – es bleibt für Jahrhunderte für die Nachwelt. Derjenige, der eine jüdische Seele rettet – in Taten, nicht in Worten, in einem polnischen Dorf – nicht in Rom – derjenige ist würdig den höchsten Platz in unserem Gedächtnis zu erlangen.

Am 30. Dezember 1993 unterzeichnete Israel und der Vatikan eine Vereinbarung über die Ratifizierung diplomatischer Beziehungen

Rabbi Israel Meir Lau war von 1993 bis 2003 aschkenasischer Oberrabbiner des Staates Israel
„Ich glaube“, sagte Rabbiner Lau, „dass Johannes Paul durch seine Erfahrungen alles über unser Leiden in den schwersten Zeiten der Geschichte weiß. Ich bin mir sicher – er versteht uns.“
„Geschichten dieser Art beantworten nicht alle Fragen, die im Laufe des Dialogs zwischen Katholiken und Juden entstanden sind und löschen auch nicht Jahrhunderte von Missverständnissen und Verrat“, sagte Rabbi Lau, „aber sie geben uns die Möglichkeit zu verstehen, warum sich der Papst so sehr für die Annäherung mit den Juden engangierte. Papst Johannes Paul II. nennt die Juden „die älteren Brüder“ der monotheistischen Familie und fügt hinzu: «Der jüngere Bruder belehrt nicht den älteren».“
Er war der erste Papst, der nach der Unterschrift der diplomatischen Beziehungen persönlich in das Land Israel reiste.
Der damalige israelische Ministerpräsident Ehud Barak erwies ihm die Ehre durch die Worte: „Sie haben mehr als jeder andere für einen historischen Wandel in der Beziehung der Kirche zu den Juden getan, um die schmerzhaften Wunden der Vergangenheit zu heilen.“
Und fügte im Anschluss hinzu: „Es ist unmöglich über Nacht all den Schmerz der vergangenen Jahrhunderte los zu werden“.

Rabbi Israel Meir Lau mit Papst Johannes Paul II

Der damalige israelische Ministerpräsident Ehud Barak
und Papst Johannes Paul II im Flughafen Ben Gurion
Am letzten Tag seiner Reise in Erez Israel besuchte Johannes Paul II. die allbekannte jüdische Klagemauer (Kotel ha-Maaravi), legte zwischen den alten Steinen einen Zettel mit der Bitte um Vergebung für die Sünden der Katholiken gegen die Juden.
Der Text des Zettels war:
„G“tt unserer Väter, Der Abraham und seine Nachkommen wählte, so sollen sie Deinen Namen mit dem ganzen Volk tragen: Wir sind zutiefst betrübt und verletzt über das Verhalten aller, die im Laufe der Geschichte das Leiden Deiner Herde verursacht haben. Wir bitten um Verzeihung, um eine brüderliche Beziehung mit dem Volk des Bundes aufzubauen.
Johannes Paul II.“
Ramiel Tkachenko, Chefredakteur des Magazins J.E.W. / „Jüdisches Echo Westfalen“