Nie wieder

Traditionell versammeln sich Anfang November die Mitglieder der jüdischen Gemeinde des Kreises Recklinghausen sowie Vertreter der Öffentlichkeit des Kreises auf dem Gemeindefriedhof. Am dritten November vor achtzig Jahren wurde das Rigaer Ghetto liquidiert, in welches die jüdischen Einwohner unserer Stadt 1942 deportiert wurden. Die Überlebenden dieses schrecklichen Tages wurden in Konzentrationslager geschickt: Majdanek, Treblinka, Mauthausen …
Nicht viele haben überlebt. Die Erinnerung an die Opfer dieser schrecklichen Ereignisse lebt in unseren Herzen weiter. Doch dieses Mal war die Erinnerung an die Vergangenheit mit den tragischen Ereignissen der Gegenwart verwoben.

Genau das betonte der Gemeindevorsitzende Dr. Gutkin in seiner diesbezüglichen Rede: Nach einer kurzen Begrüßung der Zuhörer erinnerte er an die Tragödie des Holocaust und die traurige Realität von heute. Dr. Gutkin unterstrich, dass die an diesem Tag erschienenen Gäste nicht nur gekommen seien, um der sechs Millionen Menschen zu gedenken und für sie zu beten, sondern auch, um mit Ihrer Anwesenheit ein Zeichen zu setzen dahingehend, dass sich Derartiges nicht wiederholen darf.

Der 7. Oktober 2023 markiert nicht nur eine brutale Zäsur, nein, er lässt auch einen schallenden Weckruf ertönen, einen Weckruf der uns zwingt, gemeinsame Vergangenheit und Zukunft mit anderen Augen zu betrachten. Am 7. Dezember 1970 kniete Bundeskanzler Willy Brandt in Warschau vor einem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos nieder: „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt“, so Willy Brandt später in seinen Memoiren.

Und heute, 53 Jahre danach, ist das Vertrauen in das „Nie wieder“ erschüttert. „Warum sollten wir um unser Leben fürchten, hohe Zäune um die Gemeinde bauen und kugelsichere Fenster einbauen? Wer hätte zu Zeiten von Bundeskanzler Willy Brandt eine solche Situation voraussehen können? Wie konnte so etwas in einem freien, demokratischen Land passieren? Wir haben Vertreter aller Bildungseinrichtungen der Stadt eingeladen, an diesem Gedenktag teilzunehmen. Wo sind sie? Wo sind die Vertreter der jungen Generation, die sich dem Wiederaufleben des Holocaust entgegenstellen sollten?“, so wandte sich der Vorsitzende der Gemeinde an die Zuhörer.

Er dankte allen Freunden der Gemeinde, die uns in dieser schwierigen Zeit unterstützen und sprach der städtischen Polizei seinen besonderen Dank für die Aufrechterhaltung der Sicherheit der jüdischen Diaspora in der Stadt aus. Er bedankte sich auch ganz persönlich bei der Polizeipräsidentin von Recklinghausen, Frau Zurhausen, für ihre entschlossene Haltung im Kampf gegen Antisemitismus.

Für die Kreisverwaltung richtete Bodo Klimpel das Wort an die Zuhörer. Er bezeichnete die zahlreichen anti-israelischen und antisemitischen Demonstrationen, die seit dem Massaker des 7. Oktober stattfinden, als Schande für Deutschland und das deutsche Volk. „Nicht zu vergessen, reicht nicht aus. Wir brauchen konkrete Taten“, sagte er.

„Erziehen Sie Ihre Kinder nicht zum Hass, sondern zur Liebe. Sonst wird es kein Ende des Mordens und der Gräueltaten geben“, appellierte Kantor Isaac Tourgmann emotional. Nach 80 Jahren sei die Zahl der Holocaust-Opfer um 1.400 gestiegen, so schloss er seine Ansprache. Im traditionellen hebräischen Gebet nannte Tourgmann neben den Namen der Konzentrationslager auch die Namen jener Orte, welche vom Terrorangriff der Hamas betroffen waren.

„Heute beten wir für die 6 Millionen Juden, die in den Tagen des Holocaust starben als Wahnsinn und Böses die Welt beherrschten. Wir trauern um sie und gedenken ihrer ebenso wie der unschuldigen Opfer des Angriffs von arabischen Extremisten auf Israel“, nach diesen Worten zündeten Jugendliche unserer Gemeinde Kerzen zum Gedenken an die Opfer an.

Die unkontrollierte Aggression von Terrorgruppen wie Hamas und ISIS stellt eine globale Bedrohung dar. Das Böse, das über Israel hereingebrochen ist, hat ein Echo in der ganzen Welt gefunden. Barbarei und Brutalität kennen keine Grenzen. Der Kampf gegen sie geht über die Interessen einer Nationalität, eines Staates hinaus. Es ist ein Kampf gegen die Entmenschlichung, für den Humanismus und für die menschlichen Grundwerte.
Angesichts der neuen Herausforderungen muss die Maxime „Nie wieder“ erneut zu einem unumstößlichen Versprechen werden. Unsere Zukunft und die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder hängen davon ab.

Irina Barsukowa, Jüdische Gemeinde Kreis Recklinghausen
Foto: Alexander Libkin