RIAS NRW dokumentiert einen hohen Anstieg antisemitischer Vorfälle seit dem 07.10.2023
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus NRW (RIAS NRW) ist eine Meldestelle für antisemitische Vorfälle. Ende 2021 hat RIAS NRW die Meldestelle aufgebaut und seit April 2022 werden antisemitische Vorfälle – sowohl antisemitische Straftaten als auch Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze – dokumentiert. Für 2022 hat RIAS NRW den Jahresbericht herausgebracht, in dem die Statistiken und Analysen von dokumentierten antisemitischen Vorfällen zusammengestellt sind.

Seit dem 07.10.2023 hat RIAS NRW einen massiven Anstieg antisemitischer Vorfälle in NRW registriert. Hier soll eine vorläufige Analyse für den ersten Monat nach dem Terrorangriff vom 07.10.2023 vorgestellt werden, die wir am 27.11.2023 veröffentlicht haben. Eine abschließende Analyse kann erst im nächsten Jahresbericht für das Jahr 2023 erfolgen, wenn alle Vorfälle verifiziert und nachgetragen worden sind.
Vom 07.10. bis zum 09.11.2023 dokumentierte RIAS NRW 218 antisemitische Vorfälle. Dies sind sieben Vorfälle pro Tag. Im Vergleich dazu hat RIAS NRW im ganzen vergangenen Jahr 264 antisemitische Vorfälle dokumentiert, das sind fünf Vorfälle pro Woche. Es gibt somit einen siebenfachen Anstieg antisemitischer Vorfälle.
92% der gemeldeten Vorfälle, also 201 von 218 Meldungen, haben einen Bezug zum antisemitischen Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 und der darauf folgenden militärischen Verteidigung Israels. Mit 81% der Fälle dominiert der israelbezogene Antisemitismus in Form von Aussagen, die den Staat Israel dämonisieren, delegitimieren und anhand von doppelten Standards bewerten. In 21% aller Fälle wurden Narrative des Post-Schoa-Antisemitismus erfasst, indem beispielsweise Gedenkstätten für jüdische Opfer des Nationalsozialismus mit israelfeindlichen und antisemitischen Parolen geschändet wurden. Beide Erscheinungsformen, israelbezogener sowie Post-Schoa Antisemitismus, traten darüber hinaus in Kombination auf, wenn etwa in Schoa-Relativierungen auf israelfeindlichen Versammlungen mittels Plakaten und Transparenten Israels Premierminister Benjamin Netanjahu mit Hitler verglichen wird. Bei 25% der Vorfälle wurden Jüdinnen_Juden als fremd bzw. nicht dazugehörig bezeichnet. So wurden Wohnhäuser mit Davidsternen markiert, was an die Markierungspraxis im Nationalsozialismus erinnert oder Jüdinnen_Juden wurden via Social Media direkt angefeindet.
Im Erfassungszeitraum wurde Antisemitismus in allen Ausdrucksformen dokumentiert. So kam es in zwei Fällen zu extremer Gewalt, die glücklicherweise kein Menschenleben forderte. In sechs Fällen wurden Betroffene tätlich angegriffen und in vier Fällen bedroht. Die gezielte Sachbeschädigung an jüdischen Institutionen oder am Eigentum von Jüdinnen_Juden wurde in 19 Fällen gemeldet. Zwei Vorfälle waren Massenzuschriften, die an mehrere Adressaten sowohl in NRW als auch Personen und Institutionen aus anderen Bundesländern gerichtet waren. In 185 Vorfällen kam es zu verletzendem Verhalten. Davon sind 42 israelfeindliche Versammlungen, bei denen RIAS NRW antisemitische Sprechchöre, Reden und Transparente bekannt geworden sind.
„Die Zahlen von RIAS NRW zeigen deutlich, dass Antisemitismus eine unmittelbare Folge des Angriffs auf Israel ist und die jüdische Community auf verschiedenen Wegen trifft. Dies stellt eine zusätzliche Belastung für Betroffene dar und wirkt sich zudem auf das Sicherheitsgefühl aus“, hält Micha Neumann, Teamleiter der Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit mit dem Schwerpunkt Antisemitismus (ADIRA) der jüdischen Gemeinde Dortmund, fest.
Auch die in Solidarität mit Israel gehissten Flaggen vor öffentlichen Gebäuden waren immer wieder das Ziel antisemitischer Straftäter_innen. RIAS NRW wurden 52 Vorfälle bekannt, in denen Israelfahnen beschädigt, geklaut oder verbrannt wurden. Dadurch sind öffentliche Gebäude und die Straße die am häufigsten erfassten Tatorte. Erschreckend hoch ist darüber hinaus die Anzahl antisemitischer Vorfälle im Wohnumfeld von Jüdinnen_Juden. In 22 Fällen wurden antisemitische Vorfälle im Wohnumfeld von Jüdinnen_Juden gemeldet. Anfeindungen im direkten Wohnumfeld sind für Betroffene häufig besonders bedrohlich und beängstigend, da der Schutz vor antisemitischen Übergriffen im eigenen Wohnumfeld nicht gegeben ist. 21 Vorfälle fanden in und an Bildungseinrichtungen statt. Besonders jüdische Schüler_innen sowie jüdische Studierende sind von dem erhöhten Aufkommen antisemitischer Vorfälle betroffen. Das Sicherheitsempfinden jüdischer Lernender ist konkret bedroht, wenn etwa Schmierereien wie „Kill all Zionists“ an einer Schule oder Solidaritätsbekundungen mit der mittlerweile verbotenen Bewegung Samidoun an einem Universitätsgebäude angebracht werden.
In diesem Zusammenhang konstatiert Sebastian Mohr, Teamleiter der Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit Beratung bei Rassismus und Antisemitismus der jüdischen Gemeinde Düsseldorf: „SABRA verzeichnet einen eklatant gestiegenen Beratungsbedarf von Lehrkräften. Im Zeitraum 07.10. bis 24.11. gab es über 100 Einzelanfragen. An den regelmäßigen Online-Sprechstunden nahmen bisher über 200 Personen teil. Darüber hinaus ist eine deutlich gestiegene Nachfrage nach Workshops festzustellen.“
Der politische Hintergrund der Täter_innen konnte in 73% der Fälle nicht ermittelt werden. Bei den Vorfällen, in denen ein politischer Hintergrund festgestellt werden konnte, dominierten zum einen Akteure des israelfeindlichen Aktivismus mit 12% sowie ein islamisch bzw. islamistischer Hintergrund in 8% der Vorfälle.
Beim Versammlungsgeschehen wie auch in allen alltagsprägenden Bereichen geht RIAS NRW weiterhin von einem hohen Dunkelfeld antisemitischer Vorfälle aus. Deshalb sind wir auf Ihre Mithilfe angewiesen. Betroffene von Antisemitismus oder Zeuginnen und Zeugen antisemitischer Vorfälle können diese unter www.rias-nrw.de melden.
Bundespressekonferenz: Antisemitismus in Deutschland nach dem 7. Oktober 23 – wo stehen wir und was können wir tun? (Die Live-Übertragung fand am 25. Januar 2024 statt)
Pressekonferenz mit: Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und mit Dr. Andrea Despot, Vorstandsvorsitzende der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ).