Merra
Beinahe ein Midrash
Als die Verfolgung durch den Pharao vorüber war und großer Jubel darüber aufbrandete, da setzten die Juden ihren Weg durch die Wüste fort, ohne zu wissen, dass die Prüfungen gerade erst begonnen hatten.

„Minkah, hältst du durch?“, fragte Shmulik, nach Wasser lechzend und mit von der Hitze ausgetrockneten Lippen. Seine offenen Sandalen nahmen den heißen Wüstensand auf und ließen die Füße noch schwerer erscheinen. Er hielt die Hand eines etwa sechsjährigen Mädchens fest umschlossen. Malka wollte nur mit den Jungs laufen und Shmulik musste ihren Eltern versprechen, dass er auf sie achtgeben würde.
Mosche, ganz vorne, müde und in den letzten Tagen sichtbar gealtert, hob seine Hand und rief: „Wasser! Wir halten hier an!“ Sofort eilten mehrere Männer zu einem kleinen Rinnsal, welches sich im Sande verirrt hatte, schöpften Wasser zum Trinken gierig mit den Händen, um es anschließend mit verzerrten Gesichtern sofort wieder auszuspeien: „Es ist bitter, es schmeckt schrecklich!“ Nun, diese Oase hieß auch so – Merra – bitteres Wasser.
Wie viel braucht ein Durchschnittsmensch, um die Geduld zu verlieren? Vermutlich nur ein bisschen. Und die Leute sahen Mosche fast zornig an und fragten ihn: „Hast du uns an diesen Ort gebracht, damit wir hier sterben? Was sollen wir trinken?!“ Minkah versuchte vorsichtshalber in der Nähe zu bleiben, um bei einem eventuellen Angriff auf Moshe, ihn rechtzeitig schützen zu können. Der Junge war stärker als die anderen Teenager, von Kindesbeinen an vertraut mit Hitze sowie Nahrungs- und Wassermangel.
Mosche reagierte nicht auf die allgemeine Empörung, vielmehr hob er seine Hände gen Himmel und bat G-tt lautstark, sich seines Volkes zu erbarmen und ihm etwas Trinkwasser zu schenken. Sein tiefes, inbrünstiges Gebet schien den Himmel zu erreichen und veränderte sogar dessen Farbe von einem durchdringenden Blau hin zu einem kühleren Grau.

Und plötzlich … Shmulik erstarrte als er sah, wie Malka leise durch die Menschenmenge schritt, sich Mosche näherte, den Saum seines ergriff und mit dünner Stimme sang, wobei sie diese Melo Chitons die gerade jetzt erfunden hatte:
„Geliebter Vater, wende dich nicht von uns ab, schließe deine Augen nicht, gib uns zu trinken, damit wir weiterleben können“.
Die Juden, die in der Nähe standen, dachten, dass Mosche gleich furchtbar wütend werden würde, weil Malka sein Gebet unterbrochen hatte. Aber er lachte nur, nahm das Mädchen in seine Arme und drückte es fest an sein Herz.

Plötzlich gab ein kleiner Baum ganz in der Nähe ein knacksendes Geräusch von sich und siehe da, ein langer trockener Ast fiel herunter in das fließende Rinnsal. Vor den Augen aller wurde das Wasser so klar und rein wie eine Bergquelle, so süß wie die Milch einer reifen Kokosnuss. Mosche nickte nur mit dem Kopf in Richtung des Wassers als ob er sagen wollte: „Nur zu, nehmt es, trinkt es, freut euch, ihr kleingläubigen Menschen!“
Und jetzt begann der eigentliche Spaß: Shmulik und Minkah, die ihren Durst gestillt und sich mit kostbarem Wasser übergossen hatten, versuchten Malkas schmutziges Gesicht beidseitig zu waschen, obwohl sie mit all ihrer mädchenhaften Kraft trat und auswich und ihre Oliven-Augen dabei wütend aufblitzten.
„Hast du G-tt gesehen?“, fragte Minkah sie ernsthaft als die Kinder im Schatten einer Palme saßen und den Rest der Datteln aßen, die sie für den Auszug aus Ägypten mitgenommen hatten.
„Nein“, schüttelte das Mädchen den Kopf, allerdings hörte sie gleichzeitig ein leises Flüstern im Unterbewusstsein: Mach dir keine Sorgen Kind, ich werde dir alles geben, was du brauchst, damit du und deine Freunde auf dieser langen Reise nach Hause gesund und stark bleiben und nicht ermatten.
„Malka, komm zurück ins Zelt, es ist Schlafenszeit!“
Die strenge Mutter kam, um das Mädchen zu holen. Malka hatte den Jungs bereits zum Abschied gewinkt, um dann Shmulik mit einer schnellen Bewegung noch etwas in die Hand zu drücken: „Das ist ein Zweig von genau jenem Baum. Steck ihn in deine Tasche, er wird dir noch nützlich sein. ER sagte, ich solle ihn dir geben“.

Tanja Lieberman
Illustratorin: Olena Fradina