Brüder
Beinahe ein Midrash
„Schnurrr…“, das graue Kätzchen, welches in der Nacht unerwartet in der Hütte der Kinder zwei Babys zur Welt gebracht hatte, schnurrte laut, um für sich selbst und die Neugeborenen viel mehr Aufmerksamkeit als gewöhnlich zu erbitten. Rabbi Nathan melkte lächelnd die Ziege, um der Katze zu trinken zu geben, bis sie satt war – außerdem sollten die Kinder ein gesundes Frühstück erhalten, eine Schüssel Milch mit hineingebröseltem Weizenfladen.

Zur gleichen Zeit ging ein Händler durchs Dorf und rief: „Leinenhemden! Verpasse nicht das Angebot!“
Nathan machte aus irgendeinem Grund eine finstere Mine, nahm die Milch und beeilte sich, in die Hütte zurückzukehren.
„Minka, heute wirst du auf die Kätzchen aufpassen, Schmulik und ich müssen kurz weg“, sagte Nathan streng.
Nachdem sie das Dorf in Richtung der grünen Weinberge verlassen hatten, bedeckte Nathan Shmuliks Augen mit der Hand. Die gewohnte Schwankung in der Luft und … hier war nun das Feld – riesig, grenzenlos, stellenweise von Pflanzen bedeckt, an anderen Stellen aber von der Sonne kahl gebrannt.
„Du, Shmulik, hast heute nur zwei Minuten, um dich in das Geschehen einzumischen. Und du selbst musst den passenden Moment wählen, wenn dein Herz zusammenzuckt.“
20 Meter von ihnen entfernt stand eine Erhebung aus runden Steinen, offensichtlich für Opfergaben.
Aus der Entfernung schleppten sich zwei Gestalten in dessen Richtung; als sie näher kamen, wurde sichtbar, dass ein junger Mann im scharlachroten Chiton einen Korb trug und der andere, hell gekleidet, ein kleines zahmes Lämmchen in den Händen hielt.
Als sie näher gekommen waren, bemerkte Shmulik erstaunt, dass der Korb des Ersten voll mit kleinen bräunlichen Samen war. Rabbi Nathan sagte leise, seine Frage vorhersehend: „Das sind Leinsamen, Kleiner. Später, wenn wir nicht mehr da sind, werden die Menschen ihre nützlichen Eigenschaften erkennen, jetzt aber sind sie zu nichts nütze als Abfall.“
Und nun legten die jungen Männer das, was sie in den Händen hatten, auf die Steine und gingen zur Seite, offenbar sehr aufgeregt. Wohl nicht früher als nach einer Stunde erstrahlte ein Schein vom Himmel und tauchte das schlafende Lämmchen in helles Licht. Er war so grell, dass man nicht hinschauen konnte. Es dauerte nicht lange und als die Sonne sich wieder hinter den Wolken versteckt hatte, stellte sich heraus, dass das Lämmchen verschwunden war, während der Korb mit den Leinsamen wie vorher auf den Steinen stand.

„Das ist ungerecht!“, schrie der Erste, rot vor Zorn.
„Kain“, nannte Nathan seinen Namen.
„Mach dir keine Sorgen, nächstes Mal wird HaShem deine Gaben wählen“, versuchte der Zweite seinen Bruder zu beruhigen.
„Abel“, atmete Nathan aus.
Doch Kain beruhigte sich nicht und schwang weiter nach oben schauend die Fäuste.
„Du bist ungerecht zu mir, ich liebe es mehr als jeder andere, die Erde zu beackern und Obstbäume heranwachsen zu lassen! Ich schuftete im Schweiße meines Angesichts Tag und Nacht! Ich … ich … ich …“ Kains irrer Blick fiel plötzlich auf Abel, der betrübt wegen seines Bruders war.
„Verschwinde von hier, das ist mein Land!“ – mit diesen Worten rannte Kain hinter seinem aus Angst flüchtenden Bruder her. Shmulik schaffte es kaum, sie einzuholen, während er sich die Tränen aus den Augen wischte. Der arme alte Nathan blieb hinter dem Jungen zurück, er atmete schwer und seufzte, sich den Rücken haltend.
Unter den Füßen knirschte das Moos, das beackerte Feld blieb hinter ihnen.
Abel war stärker als sein Bruder und als dieser ihn auf dem Hügel eingeholt hatte, drehte er sich um und warf Kain mit einer leichten Bewegung nieder.
„Adam hat nur uns zwei Söhne“, flehte Kain, „was sagst du zu Vater, wenn du mich tötest?“
Als er diese Worte hörte, ließ der gutherzige Abel seinen Bruder los und versuchte sogar, ihn zur Versöhnung zu umarmen. Doch dann schlug Kain einen scharfen Stein in Abels Hals und Abel fiel hin.

„Nur das nicht!“ Shmulik rannte zu dem liegenden jungen Mann hin, riss ein Stück Stoff von seiner eigenen Kleidung ab und versuchte, die Wunde zuzudrücken und die Blutung zu stoppen, doch es war schon zu spät. Die hellgrauen weit geöffneten Augen Abels schauten erstaunt in den Himmel.
Kain aber, schon etwas entfernt, stand auf den Knien mit gesenktem Kopf und antwortete jemand Unsichtbarem mit lebloser Stimme: „Woher soll ich wissen, wo er ist? Ich bin nicht meines Bruders Hüter.“
„Tu etwas, Rabbi“, flehte Shmulik Nathan an. „Schließlich hast du mich nicht einfach so hierhergeführt, das heißt, man kann was ändern und Abel retten?“
Nathan drückte den Lockenkopf des Jungen fest an seine Brust und begann seine Geschichte:
„Verstehst du, Shmulik, alle Geschichten, die du siehst, kann man in Wirklichkeit (es schmerzt mich, es dir zu sagen) nicht ändern. Aber du selbst, ein einfacher jüdischer Junge, der Mizraim verlassen hat, kannst dein tapferes Herz stärken, Nächstenliebe lernen und am wichtigsten: über das, was geschehen ist, jedem berichten, den du auf deinem Weg triffst. Kain hätte die Tschuwa vollenden und sofort gestehen können, nachdem er rasend vor Wut Abel getötet hat. Kannst du dir vorstellen, wie barmherzig und geduldig unser Vater ist? Doch er hat es nicht getan …“

Und plötzlich rieb sich etwas sehr Zartes und Flauschiges an Shmuliks Bein. Der Junge sprang vor Überraschung auf. Ein Lämmchen, sehr ähnlich dem Opfertier Abels, blökte mit dünnem Stimmchen wie ein Kind und drückte sich an die Beine Shmuliks.
„Nimm diese Gabe“, lachte Nathan auf, „du hast sie dir verdient.“
Tanja Lieberman
Illustratorin: Olena Fradina