Gegen Antisemitismus und Terror
#bring them home now
Rede von Zwi Rappoport, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Dortmund und Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe, anlässlich einer Kundgebung vor der Reinoldikirche in Dortmund am 7. Oktober 2024 zur Erinnerung an die Opfer des antisemitischen Terrorangriffs in Israel.
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde,
noch vor ein paar Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, dass eine solche Kundgebung gegen Antisemitismus und Terror notwendig sein
würde.
Jedem von uns war zwar bewusst, dass Hass und Vorurteile gegen Juden immer vorhanden waren und nicht einfach mit dem Untergang des nationalsozialistischen Deutschland verschwunden sind.
Aber die jüdische Gemeinschaft lebte in der Hoffnung und ein wenig auch in dem Glauben, dass Antisemitismus in einer aufgeklärten Gesellschaft im Laufe der Zeit nur noch ein Phänomen von Randgruppen und ein paar Ewiggestrigen sein würde.
Diese Hoffnung auf Fortschritt und auf eine gewisse Normalität jüdischen Lebens in Deutschland hat sich mit dem Terrorüberfall auf Israel – heute vor einem Jahr – in Luft aufgelöst.

Zwi Rappoport,
Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Dortmund und Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden Westfalen-Lippe.
Foto: Ramiel Tkachenko / J.E.W.
Heute vor einem Jahr überfiel die Hamas, der Palästinensische Islamische Dschihad und andere Terrorgruppen Israel und massakrierten mehr als 1200 unschuldige Menschen. Jung und Alt wurden wahllos erschossen, gefoltert, vergewaltigt und verbrannt: in ihren Häusern, auf einem Musikfestival, auf einem Morgenspaziergang oder auf der Flucht vor ihren Verfolgern.
Der Terror derjenigen, die diese Gräueltaten verübt haben, wurde noch verstärkt durch den Einsatz von Bodycams, Livestreams und einer wahren Flut von menschenverachtenden Videos und Selfies, teilweise unter Nutzung der Handys ihrer Opfer.
Mit all diesen grauenhaften Bildern vermittelten die Mörder eine eindeutige Botschaft: Wir werden nicht innehalten, bis alle Juden ermordet sind.
Heute vor einem Jahr wurden über 250 Menschen von ihren Familien, ihrem Zuhause und ihren Freunden weggerissen und nach Gaza als Geiseln verschleppt.
Die Entführten gehören zwei Dutzend Nationalitäten an, darunter auch Deutsche. Sie sind Juden, Christen, Muslime, Drusen, Buddhisten, Hindus und Atheisten.
Ihr einziges Verbrechen war, in dem jüdischen Staat Israel zu sein.
Heute, 366 Tage später, sind immer noch 101 Geiseln in der Gewalt der Terroristen. Ihr Schicksal und ihr Zustand sind ungewiss.
Der 7. Oktober 2023 war der dunkelste Tag in der jüdischen Geschichte seit dem Ende des Holocaust.
Und wie reagierte die deutsche Öffentlichkeit auf diese grauenhaften Ereignisse?
Ja, es gab anfangs ermutigende Solidaritätsbekundungen aus Politik, Gesellschaft und von einzelnen Personen.
Dies konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die breite Masse der Zivilgesellschaft seltsam emotionslos und gleichgültig reagierte auf das größte Massaker an Juden seit dem Holocaust.
Und selbst diese spärliche Empathie, die anfangs noch Israel und den Juden entgegengebracht wurde, kippte vollständig, als der jüdische Staat begann, sich gegen seine Feinde zu wehren und sich zu verteidigen. Je mehr dies geschah, je mehr traten die jüdischen Opfer des Massakers in den Hintergrund.
Heute erleben wir offenen Antisemitismus aus allen politischen Richtungen: von rechten und linken Extremisten, von Radikalen aus der muslimischen Community und leider auch immer unverhohlener aus der Mitte der Gesellschaft.
Hebräisch sprechende Menschen werden in Berlin geschlagen, eine Frau mit einem „Bring them Home-Shirt“ wird in Heidelberg angegriffen. Hakenkreuze oder Hamas-Kennzeichen finden sich an den Hauswänden jüdischer Bewohner. Auf Kundgebungen wird der Terror der Hamas gerechtfertigt und als „Widerstand“ gefeiert. Die Zahl antisemitischer Straftaten ist nach dem 7. Oktober auf ein Allzeithoch gestiegen.
Ich betone hier, dass Mitgefühl mit den zivilen Opfern in Gaza und im Libanon verständlich ist. Aber wenn dabei ausgeblendet wird, dass die Verantwortung für den Ausbruch dieses schrecklichen Krieges allein bei den Terrororganisationen Hamas, Dschihad, Hisbollah und nicht zuletzt bei dem islamistischen Mullah-Regime im Iran zu suchen ist, dann führt diese gefährliche Einseitigkeit zu einer Täter-Opfer-Umkehr: Israel ist nicht mehr das Opfer, sondern der vermeintliche Täter.
Am heutigen Jahrestag des Terrorüberfalls schmerzt das Gefühl der schleichenden Entsolidarisierung und des Alleingelassenwerdens ganz besonders. Und wir fragen uns, warum man Mitgefühl eher hilflosen oder toten Juden zukommen lässt, sobald Juden aber Stärke zeigen, dieses Mitgefühl verweigert wird.
Eine mögliche Erklärung liegt in dem nach den Schrecken des zweiten Weltkriegs in Deutschland verinnerlichten pazifistischen „Nie wieder Krieg“.
Gerade erst am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, zogen tausende Demonstranten mit dieser pazifistischen Parole durch Berlin, gemeinsam mit Putin- und Hamas-Sympathisanten. Sie forderten: keine deutschen Waffen für die Ukraine und für Israel.
Aber gegen Terroristen und Tyrannen, deren erklärtes Ziel die Auslöschung Israels und die Auslöschung der Ukraine ist, helfen keine noch so friedlichen Worte.
Wir Juden haben aus Auschwitz eine andere Lehre gezogen: „Nie wieder Opfer“. Die Gründung des jüdischen Staates Israel 1948 war die logische Konsequenz dieser Lehre. Nie wieder sollten Juden wehrlos zur Schlachtbank geführt werden.
Am 7. Oktober aber ist dieses schreckliche Szenario erneut Wirklichkeit geworden: jüdische Mütter und Väter mussten sich mit ihren Kindern verstecken, um dann doch entdeckt und hingerichtet zu werden.
Israel hat daher das Recht und sogar die Pflicht, die Sicherheit seiner Bürger wiederherzustellen. Die einzige Demokratie im Nahen Osten muss Stärke gegenüber seinen Feinden zeigen, damit sich ein 7. Oktober niemals wiederholen kann und Israels eine Zukunft hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch wenn die Situation für die jüdische Gemeinschaft äußerst bedrohlich ist, und Sie mich hier beinah ratlos sehen, versuchen wir doch, nicht mutlos und resigniert zu sein. Etwas Mut macht uns schon Ihre zahlreiche Anwesenheit bei dieser Solidaritätskundgebung. Neue Hoffnung schöpfen wir auch aus dem interreligiösen Trialog zwischen Juden, Christen und Muslimen in Dortmund. Denn trotz der schrecklichen Ereignisse und des andauernden Krieges und trotz der unterschiedlichen Sichtweise der Lage in Nahost haben wir den Gesprächsfaden nie abreißen lassen. Uns allen ist bewusst: letztendlich werden keine Meinung und keine Demonstration in Deutschland den Nahost-Konflikt lösen. Vielmehr geht es doch um unser Zusammenleben hier vor Ort. Und das ist nur möglich mit gegenseitiger Empathie, Respekt und Toleranz.
Deshalb – trotz aller Widrigkeiten und Widersprüchen: Wir alle sind Dortmund.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.