Nimrod

Beinahe ein Midrash

„Viel habe ich in meinem langen Leben gesehen, ich bin alt und langsam“, sprach Rabbi Natan mit jemandem Unsichtbaren, ganz alleine hinter der Hütte stehend, wo die Kinder noch schliefen. „Doch egal, schick diesmal lieber mich, für Shmulik wird das eine zu unvorhersehbare Reise!“

Man konnte sehen, wie Natan aufmerksam auf die geräuschlose Antwort lauschte und langsam nickte, sich traurig mit der Entscheidung von jemandem abfindend. Die Sonne erhob sich gerade erst über den Horizont und hatte die Farbe einer blassen Apfelsine.

„Shmulik, beruhige dich, hör wenigstens für zwei Minuten auf zu quasseln, merke dir, was ich dir sage“, belehrte Natan den Jungen, der zehn Fragen pro Minute stellte. „Iss nur die Körner, die ich dir in einen kleinen Beutel schütte, und Granatapfelkerne, wenn du welche auf dem Weg findest. Und vertreibe diese Henne, sie geht mir auf die Nerven!“

Schon ein paar Monate folgte Shmulik ergeben die von ihm aufgezogene, kupferfarbene Henne Beba, die immer wieder ungeschickt versuchte, auf der Schulter des Jungen zu landen.

„Erlaube mir, sie mitzunehmen, Rabbi“, flehte Shmulik. Und Natan blieb nichts anderes, als es zu erlauben. Noch bevor er bis zehn zählen konnte, riss Shmulik sich die Binde von den Augen, welche der alte Rebbe ihm vorsorglich angezogen hatte, und schaute sich an dem unbekannten Ort um.

So viele Bäume, Büsche und Gras hatte er noch nie gesehen. Es schien, als bestünde der ganze Raum aus einer grünen Masse und klarem blauem Himmel. Doch auf der Erde konnte man Inseln aus Moos finden, welche besagten, dass sie vor ganz kurzer Zeit vom Wasser bedeckt gewesen und ziemlich feucht geblieben war. Beba, die eine nie dagewesene Freiheit spürte, rannte zum nahegelegenen Olivenbaum und zurück, die Federn spreizend und gab kehlige Vogellaute von sich.

Und plötzlich flog direkt über Shmuliks Kopf ein Pfeil hinweg, der in der Baumkrone ebenjenen Olivenbaumes steckenblieb.

„Beweg dich nicht, Kleiner!“, die donnernde tiefe Stimme zitterte von der schnellen Fahrt. Es näherte sich ein Reiter auf einem rabenschwarzen Ross, von gewaltiger Größe, mit hinter dem Rücken her wehenden Haaren, mit einem riesigen Bogen in den Händen. Er griff nach dem Köcher für einen weiteren Pfeil, doch der Schrei Shmuliks bremste ihn plötzlich und verblüffte ihn offensichtlich.

„Was machst du, das ist meine Henne, sie ist meine Freundin! Denk nicht einmal daran, zu schießen!“

„Wer kreischt hier?“ Der Reiter wurde deutlich fröhlich, sich den schwächlichen lockigen Jungen anschauend. „Weißt du, wer ich bin? Ich bin der König und Gott Nimrod. Und du versuchst, mir das Jagen zu verbieten?“

„Ich habe aber noch nie von dir gehört“, sagte Shmulik mutig. „Und wir haben einen G-tt, und das bist eindeutig nicht du.“

Nimrod bückte sich mit einer Bewegung, schnappte sich Shmulik und warf ihn über den Sattel vor sich. Dann schwankte bei dem schnellen Ritt der Kopf des Jungen wie ein Pendel hin und her und er konnte nur die mit roten Fäden umwickelten Steigbügel und ein braungebranntes Bein des Reiters sehen.

„Gib ihm zu essen und er soll mir Wein zum Thron bringen.“ Der König warf den Jungen in die Arme einer dunkelhäutigen Sklavin, die sich, ohne den Kopf zu heben, bis zum Boden verneigte und Shmulik in einen kleinen Raum im Palast führte.

„Dies ist der Tempel von Nimrod höchstpersönlich,“ flüsterte die Sklavin, „es gibt hier einige Stockwerke, der Thron ist im obersten davon, dorthin wirst du zu ihm mit einem Krug Wein hinaufgehen, hast du verstanden, Kleiner?“

Gewundene Korridore waren mit Statuen des Königs in allen möglichen Arten gefüllt: hier ist er, als er noch ein Kind war, doch schon mit stolz erhobenem Kopf; hier zieht der jugendliche König am Bogen und ein alles Lebende verachtendes Grinsen umspielt seine Lippen; hier reißt er im erwachsenen Alter einem Bären das Maul auf; und hier schmückte die Krone das Haupt des mächtigen Jägers. Etwas weiter standen, wie dem Jungen eine Dienerin mit Obstkörben erklärt hatte, Statuen von Ham und seinem Sohn Kush – dem Vater Nimrods.

Shmulik hatte aus irgendeinem Grund keine Angst, er fühlte, dass er einen Einblick in sehr wichtige Momente der Geschichte bekam, die mit seinem Volk zu tun hatten.

In der Nacht weckte Beba den Jungen, indem sie ihn direkt in die Nase pickte.

„Du bist kein Huhn, du bist ein richtiger Hund.“ Shmulik umarmte sie freudig und beide schliefen fest auf der stacheligen Strohmatte ein. Bei Morgengrauen zog man den schläfrigen und wenig verstehenden Shmulik in den Pferdestall, setzte ihn auf ein schmächtiges altes Pferd und schickte ihn gemeinsam mit Nimrod und vier seiner Freunde auf die Jagd. Ihre langen Bärte waren zu Zöpfchen geflochten, wie auch der des Königs, nach assyrischer Mode. Der König unterschied sich von den anderen nur durch einen sehr dünnen braunen Umhang, der aus dem Fell eines unbekannten Tieres gemacht zu sein schien.

Der Junge ahnte, dass er nicht dank Nimrods Güte zur Jagd mitgenommen worden war, sondern weil er ihn durch seinen Anblick amüsierte, wie ein Hofnarr.

„Schau, Kleiner!“, donnerte Nimrod, den Pfeil in Richtung eines kleinen Waldes ausrichtend, aus dem ein prächtiger Hirsch mit einem verzweigten Geweih getreten war. „Du wirst sehen, wie er sich vor mir, der wichtigsten Gottheit, verneigt!!“

Shmulik beobachtete mit Schrecken, wie der Hirsch näher kam, die Vorderbeine neigte, als würde er sich hinknien, und verneigte den Kopf vor dem Herrscher. Nimrod genoss das Geschehen offensichtlich, wobei er den Gesichtsausdruck des Jungen beobachtete. Noch ein paar Sekunden und sein Pfeil, der pfeifend losflog, traf das Tier mitten ins Herz.

„Nein!“, schrie Shmulik und begann zu weinen. Doch die Freunde des Königs banden den Hirsch schon an einen Stock und schleppten ihn zu den Pferden.

Am Abend erzählte dieselbe Sklavin, welcher der Junge leidtat, ihm davon, wie einhundert Jahre zuvor die Flut zu Ende gegangen war und wie Ham, den Boden betretend, Noah den Umhang stahl, der Adam, dem ersten Menschen höchstpersönlich, gehört hatte. Danach übergab er ihn seinem Sohn Kusch und der seinerseits gab ihn an Nimrod weiter. Und so nutzte der „große“ König die geheimnisvolle Kraft des Umhangs, dank dem alle Tiere handzahm wurden. Dies war es, was Nimrod ausnutzte, um Tiere zu töten und sich als bester Jäger der Welt zu feiern.

Die Fortsetzung folgt in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift

Tanja Lieberman
Illustratorin: Olena Fradina