Rede vom 09.11.2024

Rede des Vorsitzenden der Jüdischen Kultusgemeinde Dortmund Zwi Rappoport anlässlich der Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht im Dortmunder Opernhaus am 09.11.2024

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Westphal,
sehr geehrter Herr Rabbiner Nosikov,
sehr geehrter Herr Dr. Yaron,
liebe Gemeindemitglieder,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

antisemitischer Terror in unserer Stadt begann nicht erst mit den Novemberpogromen 1938, sondern sofort mit der Machtergreifung der Nazis im Januar 1933.

Der folgende Bericht des ehemaligen Dortmunder Juden Max Rosenfeld macht dies in erschreckender Klarheit deutlich.

Zwi Rappoport,
Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe, Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund

Ich zitiere:

„Ich bin in Dortmund geboren. Wir waren sieben Geschwister. Was für Dortmund eigentlich nicht häufig vorkam, war mein Vater ein orthodoxer Jude. Er hatte auch hauptsächlich einen rituellen Beruf – Schächter für Koscher-Fleisch.

Mein Vater und einer meiner älteren Brüder waren vielleicht die ersten Naziopfer – nicht bis zum Tode, weil die Frechheit noch nicht so groß war, aber bis zur Grausamkeit und Misshandlung schon am 20. März 1933. An diesem Tag ging mein Vater vor dem Dienst zum Schlachthof-Direktor: „Na, sagen Sie mal, es wird so viel geredet und Propaganda gemacht. Soll ich es vielleicht unterlassen, an meine Arbeit zu gehen?“ Daraufhin sagte der Schlachthof-Direktor absolut die Wahrheit und mit gutem Gewissen: „Es liegt nichts vor, es gibt kein Schächtverbot, und ich sehe keinen Grund, warum Sie nicht an ihre Arbeit gehen können.“

Trotzdem wurde mein Vater kurz danach von SA-Leuten, darunter auch Metzgergesellen, die mein Vater sehr gut kannte, verschleppt und entehrt. Einer meiner Brüder, der das sah, ist nachgegangen, um zu sehen, wohin man ihn verschleppte. Da haben sie ihn auch gleich mitgenommen.

Man hat meiner Mutter gesagt, ihr Mann und ihr Sohn sind zusammen mit einem dritten Mann – ebenfalls ein ritueller Schächter – zur sogenannten Voßkuhle in eine ehemalige Ziegelei verschleppt worden. Dann erreichte uns die Meldung, dass die drei Juden in der Voßkuhle festgesetzt seien und wenn die SA nicht innerhalb von wenigen Stunden einen halben Ochsen bekäme, um die „Revolution“ zu Ende feiern zu können, würden diese Leute umgebracht.

Daraufhin wurde wirklich diesen Verbrechern das Lösegeld gegeben, und dann kam am Spätnachmittag mein Vater, psychisch zerstört und physisch misshandelt nach Hause.

Mein Vater hatte einen Vollbart, wie das orthodoxe Juden haben, und die seelischen Qualen waren folgende gewesen:
Die drei waren unten in der Kuhle und die Banditen waren oben. Dann wurde immer einer raufgerufen: „So, jetzt komm‘ du mal rauf, jetzt kommst du an die Wand!“

Und dann hörten die beiden unten Schüsse in der Überzeugung, dass man Ernst gemacht hatte.
Nachher haben sie meinen Vater und meinen Bruder zusammen raufgerufen und zu meinem Bruder gesagt: „So, jetzt musst du – hier hast du Papier und Streichhölzer – deinem Vater den Bart abbrennen.“ Und daraufhin sagte dieser: „Wie kann ich das tun? Wie könnt ihr von mir verlangen, dass ich meinem Vater den Bart abbrenne?“ Daraufhin sagte mein Vater zu ihm: „Sigmund, mach‘ es, denn du wirst es vorsichtig machen, und wenn die es machen, dann verbrennen sie mir den ganzen Kopf.“

Also das war eine seelische Qual, aber die brauch‘ ich nicht weiter zu schildern. Und insgesamt gesehen war’s ja noch ein gutes Ende, wenn man das in Betracht zieht, was im Laufe der nächsten 12 Jahre passiert ist.“

Ende des Zitats.

Max Rosenfeld emigrierte noch im selben Jahr in das damalige englische Mandatsgebiet Palästina, kurz nachdem er am Stadtgymnasium das Abitur bestanden hatte. Unser Stadtgymnasium hieß freilich damals Hitler-Gymnasium …

Verehrte Anwesende,

das auszugsweise zitierte Interview, das Max Rosenfeld im Jahre 1989 in Tel Aviv gab, macht deutlich, wie schutz- und wehrlos Juden bereits mit Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft waren. Die Demütigungen und Diskriminierungen geschahen in aller Öffentlichkeit; doch niemand kam den Bedrängten zu Hilfe. Im Gegenteil, auch Menschen wie die nichtjüdischen Metzgergesellen, die der Schächter Rosenfeld sehr gut kannte, machten bei der menschenverachtenden Aktion schamlos mit.

Und welch bittere Wahrheit spricht aus den Worten des Zeitzeugen, wenn er resümiert: „Insgesamt gesehen war’s ja noch ein gutes Ende, wenn man das in Betracht zieht, was im Laufe der 12 Jahre passiert ist.“

In der Tat, es passierte, Schritt für Schritt, eine systematische Politik der Ausgrenzung, Entrechtung und Vertreibung der deutschen Juden.

Mit den Novemberpogromen von 1938 erreichte dieser Terror seinen vorläufigen Höhepunkt – wiederum vor den Augen der nichtjüdischen Deutschen, von ihnen geduldet, hingenommen und oftmals begrüßt.

Und mit Kriegsbeginn und Besetzung Europas mündete der Rassenwahn der Nazis im industriell betriebenen Völkermord an den europäischen Juden.

Symbol dieses einzigartigen Zivilisationsbruchs ist Auschwitz, wo allein über eine Million Menschen umgebracht wurden, durch Vergasungen, Erschießungen und Verhungernlassen.

Die historische Lehre aus Auschwitz konnte für Juden nur lauten: „Nie wieder“.

Dieses „Nie wieder“ aber bedeutete für das Jahrtausende lang verfolgte jüdische Volk: Nie wieder schutz- und wehrlos, nie wieder vogelfrei, nie wieder Opfer!

Nie wieder sollten sich Juden widerstandslos umbringen lassen.

Israel, der jüdische Staat, der nach der Shoah durch die Geflüchteten und Überlebenden gegründet wurde, war die logische Konsequenz dieser historischen Opfererfahrung. Und dieser Staat war immer auch ein Sicherheitsversprechen an die Juden der Diaspora, ihnen Schutz und Zuflucht zu bieten, wenn sie wieder verfolgt werden sollten.

Am 7. Oktober 2023 aber ist das uralte Trauma der jahrtausendelangen Verfolgung und Vernichtung erneut Wirklichkeit geworden. An diesem Tag, der als „Schwarzer Schabbat“ in die jüdische Geschichte eingehen wird, konnte Israel sein Sicherheitsversprechen nicht einhalten.

Wieder mussten sich jüdische Mütter und Väter mit ihren Kindern verstecken, ohnmächtig und voller Angst, um dann doch entdeckt und bestialisch hingerichtet zu werden. Und kein Staat, keine Armee kam ihnen zu Hilfe.

Hamas und andere Terrorgruppen massakrierten mehr als 1200 unschuldige Menschen. Jung und Alt wurden wahllos erschossen, gefoltert, vergewaltigt und verbrannt: in ihren Häusern, auf einem Musikfestival, oder auf der Flucht vor ihren Verfolgern.

Die Terroristen nahmen 251 Geiseln. Noch immer sind 63 von ihnen in der Gewalt der Hamas. Mindestens 34 Entführte wurden bereits von der Armee für tot erklärt. Die jüngste Geisel ist ein Baby. Der Junge war 8 1/2 Monate alt als er entführt wurde.

Der Terror derjenigen, die diese Gräueltaten verübt haben, wurde noch gezielt verstärkt durch den Einsatz von Bodycams, Livestreams und einer wahren Flut von menschenverachtenden Videos und Selfies, teilweise unter Nutzung der Handys der gequälten Opfer. Der Angriff der Hamas galt nicht irgendeiner militärischen Einrichtung, sondern allen jüdischen Menschen, ungeachtet ihrer politischen Position, ihrer sozialen Stellung, ihrer gelebten oder nicht gelebten Religiosität.

Das brutale Vorgehen enthielt eine eindeutige genozidale Botschaft: „Wir werden nicht innehalten, bis alle Juden ermordet worden sind“. Und diese Botschaft eines fanatischen Vernichtungswillens haben wir Juden weltweit verstanden.

Nach dem Versagen des israelischen Staates, seiner Regierung, seiner Geheimdienste und seiner Armee versucht Israel nun seit über einem Jahr, die Sicherheit und das Vertrauen seiner Bürger wiederherzustellen.
Und auch wenn dieses Land in vielen existenziellen Fragen tief gespalten ist; in einem Punkt sind sich die Juden in Israel und in der Diaspora weitgehend einig – unabhängig von ihren politischen oder religiösen Überzeugungen:
Israel befindet sich in einem Überlebenskampf und hat nur dann eine Zukunft, wenn es gelingt, das Vertrauen seiner Bürger in die Sicherheit des Landes wiederherzustellen.

Ich möchte hier betonen, dass das menschliche Leid, das dieser Krieg gegen den Terror in Israel, in Gaza und im Libanon ausgelöst hat, uns zutiefst berührt. Wir haben Mitgefühl, auch mit den unschuldigen Opfern der Gegenseite.

Aber wenn immer stärker ausgeblendet wird, dass die Verantwortung für den Ausbruch dieses verlustreichen Krieges bei den Terroristen der Hamas, der Hisbollah und nicht zuletzt bei dem islamistischen Mullah-Regime im Iran zu suchen ist, dann führt diese gefährliche Einseitigkeit zu einer Täter-Opfer-Umkehr:

Israel ist nicht mehr das Opfer, sondern der vermeintliche Täter.

Ein solcher israelbezogener Antisemitismus nimmt gleichzeitig alle Juden weltweit in Kollektivhaftung für die Politik der israelischen Regierung.

Insofern ist der perfide Plan der Islamisten, Israel in einen Überlebenskampf zu zwingen mit unvermeidlich vielen Opfern, um so die politische und moralische Deutungshoheit zu erlangen, voll aufgegangen.

Wir erleben heute Antisemitismus aus allen politischen Richtungen:
von rechts und von links, aus den muslimischen Communities und immer offener aus der Mitte der Gesellschaft, aus der Kunst- und Kulturszene und aus dem universitären Bereich.

An den Hochschulen skandiert man die niederträchtige Parole:
„Free Palestine from German guilt“ – befreit Palästina von deutscher Schuld. Das ist nichts anderes als eine linke Version der Forderung von rechts nach einem endgültigen Schlussstrich.
Und mit dem scheinbar harmlos klingenden Slogan: „From the River to the Sea, Palestine will be free“ wird unverblümt gefordert, Israel möge von der Landkarte verschwinden.

Und wenn in Sachsen-Anhalt, aber leider auch hier in Dortmund, Stolpersteine aus dem Boden gerissen und entwendet werden, ist unklar, ob die Täter Rechtsextreme, Linksextreme oder Islamisten sind.

Schon im letzten Jahr habe ich an dieser Stelle meine Enttäuschung darüber zum Ausdruck gebracht, dass die breite Masse der deutschen Bevölkerung seltsam emotionslos und gleichgültig auf das größte Massaker an Juden seit der Shoah reagiert hat.

Und selbst die spärliche Empathie, die anfangs noch Israel und den Juden entgegengebracht wurde, kippte vollständig, als der jüdische Staat begann, sich gegen seine Feinde zu wehren und sich zu verteidigen. Je mehr dies geschah, je mehr traten die jüdischen Opfer des Massakers in den Hintergrund.

Stattdessen explodierte Judenhass in all seinen Erscheinungsformen auf deutschen Straßen.

Die Pro-Palästina-Demonstrationen mutieren regelmäßig zu Pro-Hamas-Veranstaltungen, bei denen die Terroristen bejubelt und als „Widerstandskämpfer“ gefeiert werden.

Hakenkreuze und Hamas-Kennzeichen finden sich an den Hauswänden jüdischer Bewohner. Hebräisch sprechende Menschen werden zusammengeschlagen.

Die Zahl der antisemitischen Straftaten ist sowohl in Nordrhein-Westfalen als auch bundesweit auf ein Allzeithoch gestiegen.

Meine Damen und Herren,

angesichts der antisemitischen Gewalt ist die jüdische Gemeinschaft zutiefst verunsichert.

Viele unserer Mitglieder sind wütend und enttäuscht und fühlen sich alleingelassen von der „schweigenden Mehrheit“, die wegguckt.

Viele ziehen sich auch deshalb zurück, weil sie die belastenden Diskussionen mit vermeintlich guten Freunden, Nachbarn und Arbeitskollegen so leid sind.

Aber auch wenn die Situation für die jüdische Gemeinschaft äußerst bedrohlich ist, und Sie mich hier beinah ratlos sehen, versuchen wir doch, nicht mutlos und resigniert zu sein.

Ein wenig Mut macht uns Ihre Teilnahme am heutigen Gedenktag.

Ein wenig Hoffnung schöpfen wir auch aus dem interreligiösen Trialog zwischen Juden, Christen und Muslimen in unserer Stadt.

Denn trotz des rauen politischen Klimas und trotz der unterschiedlichen Sichtweisen auf den Nahost-Konflikt haben wir den Gesprächsfaden nie abreißen lassen.

Denn uns ist allen bewusst:

letztendlich werden keine Kontroversen und keine Demonstrationen den komplexen Nahost-Konflikt lösen können.

Vielmehr geht es in erster Linie um unser friedliches Zusammenleben hier vor Ort.

Und das wird nur gelingen mit gegenseitiger Empathie, Respekt und Toleranz.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Foto: Stadt Dortmund / Stephan Schütze