Hersh Goldberg-Polin. Ein Held und Fußballfan

Beim Gedenken an das Novemberpogrom von 1938 bleibt es leider unumgänglich festzustellen, dass die Hetze gegen Juden erneut begonnen hat. Die Bilder aus Amsterdam zeigen dies schmerzlich deutlich und erinnern uns daran, dass der Kampf gegen Antisemitismus auch heute von erschreckender Aktualität ist.

Israelische Fußballfans jagen und zusammenschlagen ist kein Antikriegs-Protest, sondern antisemitische Gewalt und blanker Judenhass.

Am 7. Oktober 2023 ist das uralte jüdische Trauma der Verfolgung und Vernichtung erneut Wirklichkeit geworden. Die Hamas Terrorristen schossen wahllos auf Jung und Alt, sie plünderten, mordeten und vergewaltigten in 22 Ortschaften an der Grenze. Sie stürmten das Gelände eines Musikfestivals und feuerten wahllos in die Menge. 364 Festivalbesucher wurden ermordet, viele zuvor noch gefoltert und vergewaltigt. Die Terroristen nahmen 251 Geiseln.

Unter den Besuchern des Musikfestivals war auch Hersh Goldberg-Polin. Er wollte dort mit seinen Freunden seinen Geburtstag feiern. Doch am Ende des Tages war er einer von den 251 Geiseln.

Die Leiche von Hersh wurde am 31. August zusammen mit seinen fünf Freunden Ori, Eden, Almog, Alex und Carmel nach 330 Tagen in Geiselhaft vom israelischen Militär in einem Hamas-Tunnel in Rafah gefunden.

Die sechs jungen Menschen zwischen 23 und 40 Jahren waren wenige Stunden zuvor durch Kopfschüsse ermordet worden. Nun ist er „finally free“, wie seine Mutter Rachel Goldberg-Polin* sagte – aber anders, als alle gehofft hatten. Denn statt dem lebensfrohen, reiselustigen und smarten jungen Hersh Goldberg-Polin kam nur seine Leiche zurück nach Jerusalem, seinem Wohnort.

* Rachel Goldberg-Polin, eine amerikanisch-israelische Aktivistin, sie und ihr Ehemann wurden zu zwei der bekanntesten Verwandten israelischer Geiseln, die sich auf der Weltbühne für deren Freilassung einsetzten.

Rachel Goldberg-Polin

Rachel Goldberg-Polin

Doch auch mehr als 3000 Kilometer entfernt gedachten in diesen Stunden Menschen in Bremen dem 23-Jährigen. Rund 100 Fußballfans kamen zusammen und trauerten. In einem Statement von Werder Bremen heißt es: „Unsere Gedanken und unser tiefstes Mitgefühl sind in diesen schweren Stunden bei der Familie Goldberg-Polin, den Angehörigen und Hershs Freunden und Freundinnen. Bis zuletzt haben wir alle auf eine Befreiung von Hersh gehofft.“

Seit dem 7. Oktober habe die Fanszene und die Stadt nach und nach mehr über Hersh gelernt, einen „empathischen jungen Mann, der den Fußball und das Leben liebte und sich nichts außer ein friedliches Zusammenleben aller Menschen – gerade im Nahen Osten und Jerusalem – gewünscht hat“, wie der Verein weiter mitteilte.

Die Verbindung von Hersh Goldberg-Polin und Bremen kommt über den Fußball. Goldberg-Polins Heimatverein Hapoel Jerusalem, dessen Fanszene als links gilt und immer wieder für eine Versöhnung zwischen Palästina und Israel eintrat, hat seit vielen Jahren eine aktive Fanfreundschaft mit den Ultras von Werder Bremen. Seit Jahren werden gegenseitige Besuche organisiert.

Bei Hersh Goldberg-Polin verselbstständigte sich das: Er reiste nicht mehr nur im Rahmen des Programms nach Bremen, er fand an der Weser Freunde, die er regelmäßig besuchte – und einen zweiten Lieblingsverein. Im März und Juni 2023 war er zuletzt in der Stadt und im Weserstadion. Eines der Fotos, das seine Familie nach dem 7. Oktober veröffentlichte, zeigt ihn in einem Werder-Shirt.

Immer wieder setzte sich der Verein öffentlich für Hersh Goldberg-Polin ein, hisste die Fahne mit seinem Konterfei vor dem Weserstadion und forderte in den sozialen Medien seine Freilassung. Nun ist er „finally free“, die Worte seiner Mutter. Ihr geliebter Sohn durfte nur 23 Jahre alt werden.

Ihre berührende Grabrede, die uns alle zu Tränen rührte, möchte ich an dieser Stelle zitieren:

„In den letzten 332 Tagen hatte ich viel Zeit, um über meinen süßen Jungen, meinen Hersh, nachzudenken. Und eine Sache, die mir dabei immer wieder in den Sinn kommt, ist, wie G-tt von allen Müttern der Welt ausgerechnet mir Hersh gab. Was habe ich in meinem früheren Leben getan, um ein so schönes Geschenk zu verdienen? Es muss glorreich gewesen sein.

Vor ein paar Jahren schauten Hersh und ich uns gemeinsam einen Dokumentarfilm über Menschen an, die jung gestorben waren, als er plötzlich sagte: „Wie kommt es, dass alle, die jung sterben, immer als die Lustigsten, Klügsten, Tollsten, Hübschesten bezeichnet werden? Warum sagt nie jemand: „Ich mochte Max, aber weißt du was? Er war ziemlich dumm, hatte einen seltsamen Humor und außerdem Mundgeruch?“

Ich bin ehrlich. Und ich sage: Es ist nicht so, dass Hersh perfekt war. Aber er war der perfekte Sohn für mich. Und ich bin G-tt so dankbar, und ich möchte Hakarat Hatov machen (das Gute erkennen) und G-tt in diesem Moment danken, dass er mir dieses großartige Geschenk meines Hersh … gemacht hat.

23 Jahre lang hatte ich das Privileg, diesen überwältigenden Schatz zu besitzen, Hershs Mama zu sein. Ich nehme es an und sage Danke. Ich wünschte nur, es wäre noch länger gewesen. Hersh, in all den letzten Monaten habe ich mich gequält und mir jede Millisekunde des Tages Sorgen um dich gemacht. Es war eine so spezielle Art von Elend, wie ich es noch nie erlebt habe. Ich habe mich sehr bemüht, den Teil, in dem ich dich vermisse, zu verdrängen. Denn das, davon war ich überzeugt, würde mich brechen. So verbrachte ich 330 Tage in Angst, Schrecken, Sorge und Furcht. Es schnürte mir die Kehle zu und quälte meine Seele mit Verbrennungen dritten Grades.

Ein Teil dessen, was für uns so bedrückend und verwirrend ist, ist, dass auf diesem makabren Weg, auf dem sich unsere Familie in den letzten 332 Tagen befand, etwas Seltsames geschah. Inmitten der unerklärlichen Qualen, des Terrors, der Angst, der Verzweiflung und der Furcht waren wir absolut SICHER, dass du lebend zu uns nach Hause kommen würdest. Aber es sollte nicht sein. Jetzt muss ich mir keine Sorgen mehr um dich machen. Ich weiß, dass du nicht mehr in Gefahr bist. Du bist bei dem schönen Aner*; er wird dich herumführen. Du wirst hoffentlich meine Großeltern kennen lernen, die dich lieben werden, und mit Papa Stan Schach spielen. Aber jetzt verlagert sich meine Sorge auf uns: Dada, Leebie, Orly und mich. Wie werden wir den Rest dieses Lebens ohne dich meistern?

* Stabsfeldwebel Aner Elyakim Shapira, 22, enger Jugendfreund von Hersh, ein unbewaffneter Soldat außer Dienst, wurde während des Supernova-Musikfestivals ermordet, nachdem er heldenhaft sieben Granaten abgewehrt hatte, bevor die achte explodierte und ihm das Leben nahm.

Ich bete auch, dass dein Tod ein Wendepunkt in dieser schrecklichen Situation sein wird, in der wir alle verfangen sind. Es ist ein großer Trost für mich zu wissen, dass du mit Carmel, Ori, Eden, Almog und Alex zusammen warst. Nach dem, was ich gehört habe, war jeder von ihnen auf unterschiedliche Weise entzückend, und ich glaube, dass ihr sechs es deshalb geschafft habt, unter unvorstellbaren Umständen so lange am Leben zu bleiben. Jeder von ihnen hat alles richtig gemacht, um 329 Tage in dem zu überleben, was ich nur als Hölle bezeichnen kann.“

Hersh Goldberg-Polin

Barbara Samuel, Jüdische Gemeinde Dortmund
Foto: Familien Archiv Goldberg-Polin