„Beunruhigende Normalität“
Antisemitismusbeauftragte des Landes NRW stellt den 2. Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland vor
Antisemitismus ist ein drängendes Problem, das die gesamte Gesellschaft betrifft. Dies wurde auch bei einer Veranstaltung der Jüdischen Gemeinde Bochum – Herne – Hattingen im Februar deutlich, als die Antisemitismusbeauftragte des Landes NRW, Sylvia Löhrmann, den Bundesbericht zu Antisemitismus vorstellte. Der Abend, ermöglicht durch den Freundeskreis Synagoge Bochum – Herne – Hattingen, bot einige Einblicke in den neuen Bericht zu Antisemitismus in Deutschland.

v.l.n.r.: Carina Gödecke, SPD-Politikerin, ehemaliges Mitglied im NRW-Landtag und von 2012-2017 dessen Präsidentin;
Alexander Rychter, Vorstand und Verbandsdirektor des VdW Rheinland Westfalen und Vorstandsvorsitzender des Freundeskreis Synagoge Bochum-Herne-Hattingen;
Sylvia Löhrmann, Staatsministerin a.D. und Beauftragte des Landes NRW für die Bekämpfung des Antisemitismus, für jüdisches Leben und Erinnerungskultur
Löhrmann, die selbst bereits in Bochum war – sei es bei der Ruhrtriennale, im Schauspielhaus oder dank ihres Studiums an der Ruhr-Universität Bochum –, sprach eindrücklich über die Entwicklung und Wandlungsfähigkeit antisemitischer Ideologien. Sie machte deutlich, dass Antisemitismus kein neues Phänomen ist, sondern tief in der Geschichte verwurzelt ist. Entstanden aus dem Christentum fand er seinen grausamen Höhepunkt in der Shoah. Doch auch nach 1945 endete der Antisemitismus nicht: Löhrmann erinnerte an zahlreiche antisemitische Vorfälle in Deutschland – vom Brandanschlag in München 1970 über das Olympia-Attentat 1972 bis hin zu den Angriffen auf die Synagogen in Düsseldorf (2000), Wuppertal (2014), Halle (2019) und zuletzt dem versuchten Brandanschlag auf die Bochumer Synagoge, der dann eine benachbarte Schule traf (2022).
Besonders alarmierend seien die aktuellen Zahlen: 2023 registrierte die Polizeistatistik NRW 547 antisemitische Straftaten – mehr als eine pro Tag. Und die Situation spitze sich in 2024 weiter zu. Hinter jeder dieser Zahlen stecke ein Mensch, ein Schicksal, betonte Löhrmann. Zudem blieben viele Vorfälle, die unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen, gänzlich unerfasst.
Besorgniserregend hohe Zustimmungen zu antisemitischen Aussagen
Löhrmann zitierte an diesen Abend besorgniserregend hohe Zustimmungswerte zu antisemitischen Aussagen, die im Abschlussbericht zur Studie „Antisemitismus in der Gesamtgesellschaft von Nordrhein-Westfalen im Jahr 2024“ erfasst wurden. 21 % der Befragten würden angeben, niemals eine Synagoge betreten zu wollen. 46 % stimmten codierten Aussagen zu, die Juden und Jüdinnen übermäßige Macht zuschreiben. Typische antisemitische Chiffren wie „die Rothschilds“ oder „George Soros“ sind weiterhin präsent, ebenso die Diffamierung des Zentralrats der Juden.
Während der Zeit der Corona-Pandemie wurden alte Verschwörungsmythen, wie etwa die mittelalterliche Legende der „Brunnenvergiftung“ herangezogen, so Löhrmann. Auch die Verharmlosung der Shoah – etwa durch das Tragen von gelben Sternen mit der Aufschrift „Ungeimpft“ – kritisierte sie scharf. Besonders besorgniserregend sei der Wunsch von fast der Hälfte der Befragten (46 %), die Erinnerungskultur an den Holocaust zu beenden – ein Punkt, der ihr besonders am Herzen liege.

Alexander Rychter, Vorstand und Verbandsdirektor des VdW Rheinland Westfalen und Vorstandsvorsitzender des Freundeskreis Synagoge Bochum-Herne-Hattingen;
Sylvia Löhrmann, Staatsministerin a.D. und Beauftragte des Landes NRW für die Bekämpfung des Antisemitismus, für jüdisches Leben und Erinnerungskultur
Israelbezogener Antisemitismus und seine Gefahren
Ein weiteres zentrales Thema war der israelbezogene Antisemitismus. In einer Umfrage gaben 40 % der Befragten an, durch Israels Politik eine negative Einstellung gegenüber Juden entwickelt zu haben. Diese Gleichsetzung von Jüdinnen und Juden mit der israelischen Regierung sei problematisch. Der Hamas-Terrorangriff vom 7. Oktober 2023, bei dem so viele Jüdinnen und Juden ermordet wurden wie seit der Shoah nicht mehr, habe die jüdische Gemeinschaft weltweit tief erschüttert.
Löhrmann warnte davor, dass in der öffentlichen Debatte oft übersehen werde, dass der Krieg eine Reaktion auf den Terror der Hamas sei. Während Kritik an der israelischen Regierung legitim sei, werde oft eine ganze Demokratie zu einer homogenen Masse erklärt. Zudem werde außer Acht gelassen, dass die Hamas gezielt Zivilisten als Schutzschilde missbrauche. Besonders unter Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren sei eine starke antiisraelische Haltung verbreitet.
Erinnern, Begegnen, Verstehen
Da Antisemitismus viele Facetten hat, gebe es keine einfache Lösung. Neben Strafverfolgung und politischer Bildung betonte Löhrmann die Bedeutung der Erinnerungskultur. Gedenkstätten, Bücher und Zeitzeugenberichte helfen, die Folgen von Hass und Hetze zu begreifen. Der Besuch eines Konzentrationslagers oder die Beschäftigung mit Anne Frank ermögliche Kindern und Jugendlichen einen persönlichen Zugang zur Geschichte.
Doch Erinnerung allein reiche nicht – ebenso wichtig seien Begegnungen. Löhrmann berief sich auf den Philosophen Martin Buber: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Begegnungen zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen seien essenziell, sichere Räume für Dialog unverzichtbar.
Ein weiterer wichtiger Aspekt sei die Erfahrung aktiven jüdischen Lebens. Veranstaltungen wie jüdische Kulturtage oder das Festjahr zu 1700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland ermöglichen Einblicke in eine reiche Kultur jenseits der Holocaust-Gedenkkultur. Mit 2400 Veranstaltungen war das Jubiläumsjahr ein großer Erfolg, so Löhrmann.


Gemeinsam gegen Antisemitismus in Bochum, Herne und Hattingen
Am Ende der Veranstaltung wurde deutlich, dass in Bochum, Herne und Hattingen bereits viel getan wird. Vertreter*innen der Islamischen Gemeinde Röhlinghausen und der Integrationsagentur ZIVA berichteten von ihrer Bildungs- und Erinnerungsarbeit – von Gedenkstättenfahrten für Geflüchtete bis hin zu Antidiskriminierungsprojekten für Kindertagesstätten, Schulen und Seniorengruppen. Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, dass für einige Projekte und Angebote schlicht das Geld fehle.
Zum Abschluss rief Löhrmann dazu auf, sich gemeinsam gegen Antisemitismus zu stellen: „Wir dürfen den öffentlichen Raum nicht Hass und Hetze überlassen!“ Antisemitismus sei ein Symptom gesellschaftlicher Krisen – und es liege an uns allen, ihm entschieden entgegenzutreten.
Marie Zielinski
Foto: Aleksander Zheleznyak