Gespräche mit Dr. Pinchas Polonsky

Viele Jahre lang war Dr. Pinchas Polonsky ein häufiger Gast jüdischer Gemeinden und Synagogen in Deutschland, wo er Vorträge hielt und Diskussionsrunden führte. Zum ersten Mal (es war im Jahr 2010) telefonierte ich mit Dr. Polonsky und schlug ihm vor, vor einem Publikum in der jüdischen Gemeinde Dortmund aufzutreten. Nur einen Monat später fuhr ich, nachdem wir alle Details des Vortrags besprochen hatten, zum Flughafen, um Dr. Polonsky abzuholen. Darauf folgend traf ich mich oft mit Pinchas in einigen Gemeinden Westfalens, wo er inhaltsreiche und konstruktive Vorträge hielt.

In den letzten Jahren brachte Dr. Polonsky eine erstaunliche Bücherreihe mit dem Titel „Bibeldynamik“ heraus, die im Grunde ein neuer Zugang zum Verständnis der Tora aufzeigt, basierend auf der Anerkennung ihrer Charaktere als dynamische und sich entwickelnde Persönlichkeiten, die keine „statischen Gerechten“ waren – sondern sie lebten, ihre inneren Konzepte im Prozess des Dialogs mit G-tt verändernd.

„Ein solcher Zugang“, sagt der Autor selbst, „erlaubt es, die Geschichten der Tora auf einer neuen Ebene zu verstehen, die der Dynamik der Zeit und Kultur entspricht, in denen wir leben.“

Aktuell hat Dr. Polonsky eine vollständige erste Ausgabe über alle fünf Bücher der Tora herausgebracht. Dafür hat er von 2000 bis 2020 fast 20 Jahre gebraucht. Jetzt aber wird die zweite Ausgabe vorbereitet, korrigiert, Wünsche und Anregungen der Leser werden berücksichtigt, sie wird Illustrationen und auch eine völlig neue Form der Darstellung des Textes enthalten.

Außerdem wird die deutsche Übersetzung des ersten Bandes der „Biblischen Dynamik“ für die Publikation vorbereitet. Wir hoffen, dass sie in den nächsten Monaten erscheinen wird.

„Bibeldynamiken“ ist ein neuer siebenbändiger Kommentar zur Tora, der die biblischen Figuren als dynamische Individuen sieht, die nicht „statisch gerecht“ waren, sondern sich im Dialog mit G”tt entwickelten und ihre Lebenskonzepte veränderten.

Vor kurzem fand unser Gespräch über die neue Arbeit von Dr. Polonsky statt, die er selbst als Manifest mit dem Titel „Universeller religiöser Zionismus“ charakterisierte.

Dr. Pinchas Polonsky,
der renommierte progressive russischsprachige jüdische Religionswissenschaftler.

Pinchas Polonsky lebt seit 1987 in Israel, forscht an gegenwärtigen Herausforderungen des Judentums. Er ist Autor von 25 Büchern in russischer Sprache (ein Teil davon wurde ins Englische und Hebräische übersetzt), u. a. Bestseller „Tore des Gebetes“, „Zwei Jahrtausende zusammen. Jüdische Sicht auf das Christentum“, „The Central Ideas of Kabbalah: For Beginners“ sowie Bücher über gegenwärtige religiöse Herausforderungen.

R.T.: Verehrter Reb Pinchas, viele moderne orthodoxe Juden sind dadurch beunruhigt, dass der religiöse Zionismus, der zuerst als Brücke zwischen israelischen Hilonim (den weltlichen Juden) und ihren Haredim-Brüdern diente, sich verändert hat und aufgehört hat, eine Brücke zu sein. Was kann man tun, um dieser Tendenz entgegenzuwirken und die Brücke zwischen zwei Gemeinden zu bewahren?

P.P.: Leider hat der religiöse Zionismus aufgehört, eine Brücke zu sein, weil er sich sehr stark hinüber bewegt hat, auf die Seite der nationalen Agenda der Siedler-Bewegung in Judäa und Samaria sowie auf die Seite der aktiven Beteiligung am politischen Leben in Israel durch den rechten Flügel der israelischen Gesellschaft. Deswegen wurde er für viele zum politischen Gegner, sowie für Nicht-Religiöse als auch für Haredim.

Ich finde, man kann in den Gedanken von Rav Abraham Yitzhak HaCohen Kook, dem Begründer des religiösen Zionismus, eine Antwort finden, insbesondere in seiner Idee von Olamiut (Universalität). Rav Kook nannte seine Jerusalemer Jeshiwa-Schule anfangs „Merkasit Olamit“, „Zentrale universale Jeshiwa“. Das Wort „Olamit“ bezog sich auf universelle globale Werte. Wobei dieser Name ins Englische als „The Central Universal Yeshiva“ übersetzt wurde.

Olamit ist die Anrede an die gesamte Menschheit, ein universeller Aspekt, Merkasit aber die Anrede an das Zentrum dieser Welt: Israel und das jüdische Volk, das in Zion lebt, ein nationaler Aspekt. Dies vereinigt universalistische Aspekte des Judentums mit den konkreten Werten des Zionismus. Mit anderen Worten ist Merkasit Olamit die jüdische Version des römischen „urbi et orbi“ – „zur Stadt und zur Welt“.

Die Anführer des neuen religiösen Zionismus, die in der Jeshiwa von Rav Kook erzogen worden waren, lehrten diese globalen Werte zu bestimmen und sie kompatibel zum Judentum zu machen. Rav Kook nannte dies „Integration des Judentums in die Werte der liberal-universalistischen Gruppe im jüdischen Volk“.

R.T.: Worin genau äußert es sich, dass der nationale Aspekt bereits durch den religiösen Zionismus integriert ist, und wie sollte die weitere Entwicklung sein?

P.P.: Der religiöse Zionismus (gehäkelte Kippas) nimmt einen zentralen Platz in der Siedler-Bewegung und bei der Besiedlung Judäas und Samarias ein. Das ist die Ausprägung des Zionismus in unserer Zeit. Der religiöse Zionismus nimmt am aktivsten an der Armee und der Verteidigung des Landes teil. Unter den Soldaten, die im letzten Krieg gefallen sind, sind jetzt etwa 45 Prozent religiöse Zionisten, wobei diese Gruppe zahlenmäßig nur 15 Prozent der jüdischen Bevölkerung ausmacht. Das heißt, ihre Beteiligung an der Verteidigung des Landes ist dreimal so aktiv wie der Durchschnitt im Land. Religiöse Zionisten nehmen aktiv an vielen Bereichen des Lebens des Staates teil.

All das zeigt, dass die erste Etappe im vergangenen Jahrhundert bereits umgesetzt wurde. Dabei ist die Integration der universellen Werte noch nicht passiert. Dies äußert sich dadurch, dass die religiösen Zionisten bisher auch in allen Formen der Kunst nur sehr wenig vertreten sind, sowie in vielen sozialen und humanitären Wissenschaften.

Zum Beispiel gibt es viele religiöse Zionisten in angewandten technischen Gebieten, wie etwa dem Hightech-Bereich. Doch ihr prozentualer Anteil ist viel geringer in der fundamentalen Wissenschaft.

Noch gibt es keine eindeutig formulierte universelle Ideologie und Ansprache an die Völker der Welt. All das bedeutet, dass man die Vorbereitung des Judentums auf seine Möglichkeit, die restliche Menschheit zu beeinflussen, noch umsetzen muss.
Und dies stört nicht nur im globalen, sondern auch im jüdischen Aspekt – denn dadurch gibt es keine Möglichkeit, die „universalistischen Juden“ vom Judentum zu begeistern.

Genau deswegen habe ich mein Manifest des universalen religiösen Zionismus vorbereitet, um mich zu bemühen, den Weg einer solchen Entwicklung zu markieren und die Werkzeuge dafür zu geben. Den Text dieses Manifestes kann man, wie auch alle meine anderen Bücher, auf meiner Website finden.

R.T.: Wie helfen moderne Zugänge zur Religion dabei, eine wissenschaftliche Anschauung der Welt mit geistigen Traditionen zu integrieren?

P.P.: Eine der Grundlagen der Modernisierung der Religion ist es heute, die ganze Welt zu sehen und nicht nur die religiöse Tradition als das Sichtbarwerden G-ttes und die Grundlagen unseres Dialogs mit Ihm. Denn G-tt hat nicht nur die Tora, sondern auch das ganze Universum erschaffen. G-tt zeigt sich vor uns auf zwei Weisen – durch Offenbarung und das Erschaffen. Jahrhunderte lang interessierte sich die Religion nur durch die Erscheinungen G-ttes durch Offenbarung und vernachlässigte das Erschaffen. Auf diese Weise ließ man die Lehre der Erschaffung und die Eröffnung ihres Potentials links liegen, es wurde auf seine Weise der weltlichen Wissenschaft und Kultur „weitergegeben“.

Dies ist zutiefst falsch. Die Religion, die sich nur auf die Offenbarung konzentriert und die Erschaffung vernachlässigt, wird „einbeinig“ und kann sich nicht weiterbewegen, kann den ihr würdigen Platz in der Gesellschaft nicht einnehmen. Deswegen ist es sehr wichtig zu erkennen, dass die Erforschung der Natur und des Menschen, sowie auch das ganze kulturelle und soziale Leben einen religiösen Wert besitzt – auf keinen Fall einen geringeren als die Erforschung der Tradition und das Befolgen von Geboten.

Natürlich sollte die Religion der Wissenschaft oder Kunst nichts vorschreiben, doch sie muss auf jeden Fall den religiösen Wert der Wissenschaft und Kunst aufzeigen und damit die religiösen Menschen dazu bringen, aktiv daran teilzunehmen.

Dies wird einen riesigen Einfluss auf das gesellschaftliche Bewusstsein zeigen und dann wird das Ungleichgewicht ausgebessert worden sein.

Auf der Website von Dr. Pinchas Polonsky sind weitere Schriften, Vorträge und Reden von ihm aufgeführt: pinchaspolonsky.org/en/

Das Interview mit Dr. Pinchas Polonsky führte der Chefredakteur der Zeitschrift J.E.W. Ramiel Tkachenko