Leserbrief von Sharon Fehr zum Artikel
aus Der Spiegel Nr. 21 / 17.05.2025
„Zwischen Kritik und Staatsräson – Wie der Gazakrieg den deutschen Blick auf Israel verändert“
(Spiegel 21/2025, Autoren: Tobias Rapp, Thore Schröder, Florian Gatmann, Christoph Schult)
a) Vorbemerkung:
Das Cover der SPIEGEL-Ausgabe vom 17. Mai 2025 zeigt zwei ineinander verhakte, aber geöffnete Vorhängeschlösser – das eine in Schwarz-Rot-Gold, das andere mit der israelischen Flagge. Ein starkes Symbol: Die Verbindung zwischen Deutschland und Israel besteht noch – aber sie ist nicht mehr gesichert.
Der Artikel beleuchtet die aktuelle Debatte um die deutsche Staatsräson gegenüber Israel – insbesondere im Kontext des Hamas-Terrors vom 7. Oktober 2023 und des darauffolgenden Krieges im Gazastreifen. Es wird beschrieben, wie sich das gesellschaftliche Klima verändert hat: Pro-israelische Haltungen geraten unter Rechtfertigungsdruck, während kritische und distanzierende Stimmen gegenüber Israel lauter werden. Das jahrzehntelange Bekenntnis zur besonderen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels scheint ins Wanken zu geraten.
Mit meinem Leserbrief möchte ich zu einer öffentlich-sachlichen Debatte beitragen und insbesondere meine Perspektive als Jude und als deutsch-israelischer Doppelstaatler einbringen.
Gerade vor dem Hintergrund des jüngsten schrecklichen antisemitischen Mordes an zwei israelischen Botschaftsmitarbeitern in den USA erscheint es umso dringlicher, nicht zu schweigen – sondern unsere Stimme für eine differenzierte, faire und sachlich geführte Auseinandersetzung zu erheben.
b) Kritik:
Ich war auf den Artikel von Freunden angesprochen worden – und war gespannt, ob es ihm gelingen würde, der historischen wie sicherheitspolitischen Ausnahmesituation Israels gerecht zu werden. Doch stattdessen dominieren Schuldumkehr und Relativierungen.
Der Kontext des barbarischen Pogroms vom 7. Oktober – des schlimmsten Massenmords an Juden seit der Shoah – wird zwar erwähnt, aber in seiner Dimension nicht wirklich erfasst. Stattdessen wird die Erzählung aufgebaut, „kritische Stimmen gegenüber Israel“ würden zunehmen – ohne zu benennen, dass diese vielfach gespeist sind aus einseitiger Medienberichterstattung, gezielter Desinformation und antisemitischer Agitation.
In dem Bericht bleiben auch zentrale Aspekte ausgespart, die für eine faire und differenzierte Bewertung unerlässlich wären.
So wird mit keinem Wort erwähnt, dass das unermessliche Leid der Zivilbevölkerung in Gaza, die Hungersnot und die anhaltenden militärischen Auseinandersetzungen längst ein Ende finden könnten – wenn die Hamas die israelischen Geiseln freiließe oder wenigstens deren Leichname zur Rückführung an Israel übergeben würde. Dass diese Geiseln bis heute bewusst als Faustpfand gehalten werden, scheint dem Autor keine Erwähnung wert.
Ebenso wird verschwiegen, dass es nicht an Israel liegt, dass die Gewalt in der Region eskaliert, sondern dass islamistische Terrororganisationen wie die Hamas, die Hisbollah, die Huthi-Rebellen und das Mullah-Regime in Teheran seit Monaten gezielt israelische Städte mit Raketenangriffen überziehen und Israels Existenzrecht offen infrage stellen. Diese fortgesetzte Bedrohung der israelischen Zivilbevölkerung bleibt in der Analyse nahezu unbeachtet.
Zudem wird suggeriert, dass das Urteil des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag eine einhellige und unangefochtene juristische Autorität darstelle. Dabei wird verschwiegen, dass viele Staaten – darunter auch bedeutende westliche Demokratien – den Gerichtshof nicht anerkennen oder dessen Zuständigkeit infrage stellen. Die Einseitigkeit der Klage, vorgebracht von Südafrika, bleibt weitgehend unreflektiert.
Der Artikel verschiebt historische Verantwortung und biegt Tatsachen zurecht, um einer wachsenden Gruppe von sogenannten „Staatsräson-Zweiflern“ Argumente zu liefern. Wer allerdings die historische Lehre aus der Shoa ernst nimmt, weiß: Deutschlands Solidarität mit Israel ist nicht beliebig, sondern ein Kern unserer demokratischen Verantwortung – auch und gerade in schwierigen Zeiten.
Besonders fragwürdig ist die unterschwellige Gleichsetzung von deutscher Staatsräson mit bedingungsloser Rückendeckung für jede israelische Regierungspolitik. Das ist ein Zerrbild – und Wasser auf die Mühlen jener, die sich längst von der Solidarität mit dem jüdischen Staat verabschiedet haben.
Staatsräson bedeutet nicht Gefolgschaft – sondern Verantwortung. Sie meint die Verpflichtung zum Schutz jüdischen Lebens und zur Verteidigung des Existenzrechts Israels – und zwar unabhängig von der parteipolitischen Zusammensetzung einer israelischen Regierung. Die Vermischung dieses Prinzips mit Tagespolitik untergräbt seine Bedeutung – und damit die historische Verantwortung, die Deutschland aus der Schoah erwächst.
Ich komme nicht umhin festzuhalten: Dieser Spiegel-Artikel verfehlt es, Verantwortung für die Rolle deutscher Medien bei der Normalisierung israelfeindlicher Narrative zu übernehmen. Wer „kritische Stimmen“ zitiert, ohne deren ideologischen Hintergrund offenzulegen, betreibt nicht Aufklärung – sondern trägt zur schleichenden Entgrenzung des Sagbaren bei.
Mein Fazit:
Der Artikel begleitet mit journalistischer Gelassenheit eine gefährliche Normalisierung: die Verschiebung der moralischen Koordinaten im Umgang mit Israel – und damit auch im Umgang mit uns als jüdischer Gemeinschaft in Deutschland.
Wer als Jude in diesem Land lebt, spürt, was diese Veränderung bedeutet: nicht nur in Worten, sondern in wachsender Verunsicherung, steigendem Druck – und im schleichenden Verlust einer Solidarität, die früher kaum zur Disposition stand.
Die beiden geöffneten Vorhängeschlösser auf dem Cover stellen daher eine zutreffende Frage:
Ist das deutsch-israelische Verhältnis nur angespannt – oder bereits gefährdet?
Münster, 23.05.2025
Sharon Fehr, Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Münster