Zusammenfassung: Antisemitische Vorfälle in NRW 2024
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Nordrhein-Westfalen (RIAS NRW) dokumentiert antisemitische Vorfälle im Bundesland und unterstützt Betroffene. RIAS NRW ist ein wichtiger Baustein in der Prävention und der Bekämpfung von Antisemitismus. Denn erst durch die kontinuierliche niedrigschwellige Dokumentation und die wissenschaftliche Auswertung nach bundesweit einheitlichen Standards im RIAS Bundesverband, ist es möglich, ein genaueres Bild von den Erscheinungsformen des Antisemitismus zu zeichnen. Wie äußert sich Antisemitismus konkret, von wem geht er aus, gegen wen richtet er sich?


Auch im dritten Erhebungsjahr verzeichnete RIAS NRW einen Anstieg antisemitischer Vorfälle. 940 Vorfälle wurden erfasst, dies entspricht einer Steigerung von 42 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (664 Vorfälle). Das sind durchschnittlich 18 Vorfälle pro Woche, im Jahr 2023 waren es noch 13 Vorfälle pro Woche.
Insgesamt wurden:
- 1 Fall von extremer Gewalt,
- 18 Angriffe,
- 22 Bedrohungen,
- 61 gezielte Sachbeschädigungen
- 56 Massenzuschriften,
- 228 Versammlungen,
- 5 Diskriminierungen,
- 549 Fälle von verletzendem Verhalten registriert.
Antisemitische Vorfälle mit direkt Betroffenen richteten sich im Jahr 2024 in 244 Fällen gegen Einzelpersonen und in 233 Fällen gegen Institutionen. In 61 Prozent der Fälle mit direkt Betroffenen, also in 149 Vorfällen, waren die Personen jüdisch, israelisch oder als solche adressiert. Von den 233 betroffenen Institutionen waren 33 jüdische, israelische oder als solche adressierte Einrichtungen. Gerade der hohe Anteil von Jüdinnen*Juden unter den Betroffenen, aber auch unter den Institutionen, verdeutlicht, wie häufig Jüdinnen*Juden und jüdische Einrichtungen Ziel antisemitischer Anfeindungen oder gar Angriffe sind, insbesondere im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil. In 463 Fällen wurden antisemitische Äußerungen oder Handlungen ohne direkte Betroffene erfasst. Darunter fallen beispielsweise Schmierereien, Aufkleber oder Versammlungen.
Mit 590 Vorfällen war der israelbezogene Antisemitismus auch im Jahr 2024 die am häufigsten dokumentierte Erscheinungsform. Während sich im Vorjahr die absolute Mehrheit dieser Erscheinungsform nach dem 7. Oktober 2023 ereignete, bot der Gaza-Krieg im Jahr 2024 eine ganzjährige Gelegenheitsstruktur für antisemitische Vorfälle. Sie äußerten sich vor allem in der Delegitimierung und Dämonisierung Israels und darin, dass Jüdinnen*Juden in NRW persönlich für das Handeln der israelischen Regierung verantwortlich gemacht wurden.
In 301 Vorfällen wurden Narrative des Post-Schoa-Antisemitismus bedient. Eine Erscheinungsform, die sich in der Leugnung, Relativierung oder Verharmlosung der Schoa artikuliert. In 334 Vorfällen wurde das sogenannte antisemitische Othering erfasst, bei dem Jüdinnen*Juden als der Mehrheitsgesellschaft „fremd“ oder „nicht zugehörig“ markiert werden.
Häufig berührt ein Vorfall mehr als eine Erscheinungsform. So kommt es bei Vorfällen zu Verschränkungen von mehreren Erscheinungsformen. Die häufigsten Verschränkungen im Jahr 2024 waren vor allem der israelbezogene Antisemitismus in Kombination mit dem Post-Schoa-Antisemitismus (148 Vorfälle) und dem antisemitischen Othering (129 Vorfälle). Dies ist vor allem auf den Charakter vieler antiisraelischer Versammlungen zurückzuführen, bei denen immer wieder Gleichsetzungen oder Relativierungen des Gaza-Krieges mit der Schoa vorgenommen wurden.
„Nach dem pogromartigen Angriff der islamistischen Terrororganisation Hamas auf die Zivilbevölkerung Israels, hat sich auch in NRW die konkrete Gefahr für Juden durch antisemitische Anfeindungen nochmal dramatisch erhöht. Seitdem ist die ohnehin schon hohe Zahl der judenfeindlichen Straftaten und Übergriffe nochmal fast explosionsartig gestiegen. Unbeschwertes jüdisches Leben ist momentan fast nur noch in geschützten Räumen möglich.“
Die Erscheinungsform des modernen Antisemitismus trat in 92 Fällen auf und zeichnet sich insbesondere durch Verschwörungsmythen aus, etwa wenn Jüdinnen*Juden eine besondere Macht oder eine vermeintliche „Weltverschwörung“ zugeschrieben wird. In 97 Fällen wurde der antijudaistische Antisemitismus dokumentiert.
Die genannten Erscheinungsformen von Antisemitismus beziehen sich jeweils auf die inhaltliche Aussage oder Handlung, lassen aber nicht zwangsläufig Rückschlüsse auf den politisch-weltanschaulichen Hintergrund der Täter:innen zu, da die verschiedenen antisemitischen Erscheinungsformen von allen politisch-weltanschaulichen Milieus ausgehen. Die meisten der 2024 in NRW dokumentierten Vorfälle konnten dem antiisraelischen Aktivismus zugeordnet werden (28 Prozent), gefolgt vom rechtsextremen/rechtspopulistischen Milieu (5,5 Prozent). In jeweils 3,5 Prozent der Fälle konnte ein linker/antiimperialistischer Hintergrund beziehungsweise ein islamischer/islamistischer Hintergrund festgestellt werden. Jeweils weniger als 0,5 Prozent der antisemitischen Vorfälle konnten der politischen Mitte und dem Milieu des christlich/christlichen Fundamentalismus zugeordnet werden. Der Anteil des verschwörungsideologischen Milieus, der 2023 noch bei 5 Prozent lag, ist 2024 auf 2 Prozent gesunken. Mit 57 Prozent konnte der Großteil der erfassten Vorfälle keinem politischen Hintergrund zugeordnet werden. Dies liegt insbesondere daran, dass RIAS NRW den politischen Hintergrund nur dann erfasst, wenn sich dieser eindeutig aus dem Vorfall ergibt, beispielsweise wenn sich die Täter:innen selbst einem entsprechenden Milieu zuordnen. Bei Beschädigungen und Schmierereien bleiben die Täter:innen häufig unbekannt, so dass der politische Hintergrund nicht zugeordnet werden kann, wenn er nicht aus dem Inhalt des antisemitischen Vorfalls hervorgeht.
Antisemitische Vorfälle ereigneten sich im Jahr 2024 vor allem im öffentlichen Raum sowie in alltagsprägenden Bereichen. Insbesondere auf der Straße mit 327 Vorfällen, was ein Indiz dafür ist, dass Antisemitismus überall passieren kann. Ein besonders sensibler Bereich sind Wohnorte von Betroffenen mit 20 Vorfällen. Aber auch in Bildungseinrichtungen (142), in öffentlichen Verkehrsmitteln (74) und an den Gedenkorten, die an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus erinnern (101). Im Online-Bereich wurden 2024 151 Vorfälle dokumentiert. Weitere 125 Vorfälle wurden in anderen Bereichen dokumentiert.
Von den insgesamt 940 Vorfällen wurden nach Angaben der Meldenden nur 194 Vorfälle, also 21 Prozent, bei der Polizei angezeigt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass RIAS NRW sowohl strafrechtlich relevante Vorfälle als auch Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze erfasst.
Eine genauere Aufschlüsselung und auch vertiefende Analysen zum Antisemitismus an Hochschulen, zum Versammlungsgeschehen und zur Erinnerungsabwehr – Angriffe an das Gedenken an die Schoa – kann im Jahresbericht nachgelesen werden. Hier kann der Jahresbericht kostenlos heruntergeladen werden: report-antisemitism.de/annuals/
Wenn Sie einen antisemitischen Vorfall gesehen haben oder von einem antisemitischen Vorfall selbst betroffen sind, melden Sie sich bei uns unter: www.rias-nrw.de
Ihr RIAS NRW Team
