Hoffnung in dunkler Zeit

Interview aus den Westfälischen Nachrichten (WN) mit Sharon Fehr, 24.12.2023

Sharon Fehr im Büro der Jüdische Gemeinde Münster. Foto: Archiv Jüdische Gemeinde Münster

Sharon Fehr im Büro der Jüdische Gemeinde Münster. Foto: Archiv Jüdische Gemeinde Münster

WN: Herr Fehr, was macht ein Jude in Deutschland zu Weihnachten?
Fehr: Weihnachten hat natürlich nichts mit der jüdischen Lebenswirklichkeit zu tun. Dennoch genieße ich es, an diesen Tagen der besonderen Atmosphäre mit Freunden durch die Innenstadt Münster zu spazieren, die schön dekorierten Schaufenster zu bestaunen und mich vom Duft der süßen Zimtsterne, Lebkuchen, Spekulatius und Punsch, der über den Weihnachtsmärkten aufsteigt, anziehen zu lassen.

WN: Zumal Sie ja erst vor wenigen Tagen Chanukka, das jüdische Lichterfest, gefeiert haben.
Fehr: Genau, zu Hause im Kreis der Familie oder mit Freunden, acht Tage lang. Es ist Brauch, unsere Kinder an Chanukka mit kleinen Geschenken zu erfreuen und sich Zeit zu nehmen, mit den Kleinsten zu Hause zu spielen. Ein besonders beliebtes Spiel an Chanukka ist das Dreidel-Spiel, eines der ältesten überlieferten Spiele überhaupt. Unser Chanukka-Lichterfest ist längst nicht mit dem Stress verbunden, den ich bei meinen christlichen Nachbarn beobachte. So muss ich mir über den Einkauf von Geschenken nicht den Kopf zerbrechen und auch nicht darüber, was zum Essen auf den Tisch kommt, und auch nicht darüber, wer alles eingeladen werden soll. Auch wenn Chanukka und Weihnachten sowohl historisch als auch religiös nicht den gleichen Hintergrund haben, so verbinden die Kerzenlichter beider Feste doch Hoffnung und die Sehnsucht nach Frieden.

WN: Eine Sehnsucht, die wohl lange nicht mehr so stark war wie in diesem Jahr.
Fehr: Putins barbarischer Krieg gegen die Souveränität der Ukraine ist leider immer noch in seiner Brutalität gegenwärtig. Aber natürlich gehören unsere Gedanken und Sorgen als Jüdische Gemeinde in dieser schweren Zeit in erster Linie Israel, dem Land, dessen Staatsangehörigkeit mich mit Stolz erfüllt und in das vor zehn Wochen dschihadistisch-islamistische Verbrecher in den frühen Schabbat-Morgenstunden eindrangen, Kibbuzim und ein Musik-Festival friedlich feiernder israelischer Jugendlicher überfielen, Kinder, Mütter, Väter und rollstuhlfahrende Großmütter hinschlachteten.

WN: Die Details dieses Massakers sind unerträglich. Noch vor ein paar Monaten lebten wir in einer anderen Welt. Im Mai herrschte beste Stimmung, als im Rathaus der 75. Geburtstags Israels gefeiert wurde.
Fehr: Die Stadt Münster und die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG) Münster e.V. luden zur Jubiläumsfeier am 25. Mai in den Festsaal des historischen Rathauses ein. Sie fiel auch mit dem Jubiläumsjahr „375 Jahre Westfälischer Frieden“ zusammen. Die Resonanz in der Bevölkerung war groß, kaum ein Stuhl im großen Festsaal der Stadt Münster blieb frei.
Niemand hätte es ahnen oder sich vorstellen mögen, nur wenige Monate nach dem Festvortrag des DIG-Präsidenten Volker Beck mit dem Thema: „75 Jahre jüdischer und demokratischer Staat. Israel – die Geschichte einer Selbstbehauptung“, dass Israel durch die palästinensisch-islamistischen Hamas-Terroristen den blutigsten Angriff auf Juden seit dem Holocaust erleben würde.

WN: Was hat sich seitdem für die Jüdische Gemeinde in Münster verändert?
Fehr: Die vielen Solidaritätsbekundungen, Besuche und Spenden, die wir für den Wiederaufbau des Kibbuz Re‘im und für die Spendenaktion Rettungswagen „Magen David Adom Israel“, erhalten haben, zeigen uns, dass die Anteilnahme auch in Münster groß ist und wir nicht allein sind. Das hilft uns, aber es ist dennoch nicht unübersehbar, dass viele unserer Mitglieder sich Sorgen machen und verunsichert sind. Viele von uns haben Verwandte und Freude in Israel, denen unsere Gedanken gehören. Für viele von uns ist es schwer – wenn überhaupt – in Worte zu fassen, was in Israel, dem Land, das für uns stets als sicherer Hafen galt, geschehen ist und auch gegenwärtig geschieht.
Das Ausmaß des barbarischen Terrors der palästinensischen Dschihadisten, die Frauen, Teenager vergewaltigten, Väter verschleppten und auch Kinder brutal ermordeten, erschüttert uns, erschüttert die Welt. Dieser Terror scheint auch gegenwärtig kein Ende nehmen zu wollen. SCHRECKLICH!

WN: Reichen die Schockwellen aus dem Nahen Osten bis in den Alltag der Jüdinnen und Juden in Münster?
Fehr: Auch bei Mitgliedern unserer Jüdischen Gemeinde Münster ist der barbarische Anschlag der dschihadistisch-islamistischen Terrororganisation Ha­mas in Israel zum ständigen Begleiter geworden. Es sind die unfassbaren Gewaltverbrechen gegen jüdische Menschen in Israel und damit gegen uns Juden, mit der Botschaft der Israel-Hasser: „Egal wo – ihr seid nirgendwo sicher“, was nichts anderes als die von Hamas angestrebte Auslöschung jüdischen Lebens bedeutet. In diese Richtung weist auch für unsere Mitglieder der Gewaltaufruf der palästinensisch-islamistischen Hamas-Terroristen an ihre Unterstützer gegen jüdische Einrichtungen außerhalb Israel. Mitglieder fragen uns immer wieder, ob es gegenwärtig denn nicht zu gefährlich sei, ihre Kinder zum jüdischen Religionsunterricht, ins Jugendzentrum zu schicken oder am Schabbat zur Synagoge zu kommen. Religiöse jüdische Männer tragen stets eine Kippa als Zeichen der Ehrfurcht vor G“tt. Auch ich war bisher Kippaträger und behielt sie auch außerhalb der Synagoge auf. Doch, seit dem 7. Oktober hat sich vieles geändert. Auch ich handhabe es wie alle unsere männlichen Mitglieder, die ihre Kippa entweder in der Hosentasche oder unter der Mütze verschwinden lassen. Unsere Mitglieder haben ein sehr gutes Gespür dafür, dass die Qualität der Bedrohung seit dem 7. Oktober eine andere ist, was nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass es Antisemitismus auch schon vor dem 7. Oktober gegeben hat. Dennoch lautet meine Antwort auf die Frage, ob wir in Deutschland noch richtig sind, ganz klar: Ja! Wir gehen nirgendwo hin, wir bleiben hier und wir lassen uns auch nicht einschüchtern.

WN: Es gibt das geflügelte Wort von Jüdinnen und Juden, die auf gepackten Koffern sitzen, damit sie sich im Ernstfall schnell in Sicherheit bringen können. Ist diese Situation nun da?
Fehr: Es gibt in unserer Gemeinde kaum ein Mitglied, das nicht selbst Antisemitismus erlebt hat oder zumindest aus seinem Bekannten- und Freundeskreis darüber zu berichten wüsste. Vor 30 Jahren kamen viele Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion zu uns nach Deutschland und so auch nach Münster. Sie kamen zu uns, weil sie künftig ohne Antisemitismus leben und sich für ein gutes Zusammenleben in unserer vielfältigen Gesellschaft einsetzen wollten. Die Angst vor Antisemitismus, vor Anfeindungen ist geblieben und nun erst recht nach dem 7. Oktober 2023. Das Massaker in Israel hat auch bei Mitgliedern unserer Gemeinde Sorgen, Verunsicherung und Ängste hervorgerufen. Doch, wie gesagt, auszuwandern ist gegenwärtig für niemanden aus unserer Gemeinde eine Option.

WN: Wohin sollten sie auch gehen?
Fehr: Genau. Wohin auch? Bisher konnten wir immer sagen, dass wir, falls nötig, jederzeit nach Israel gehen können. Doch mit dem terroristischen Überfall ist uns diese sicher geglaubte Oase entglitten – zumindest für die nächsten Wochen. Was unseren Mitgliedern am meisten weh tut, ist die Enttäuschung, erneut darüber nachdenken zu müssen, ob ihre Kinder und Enkelkinder in Deutschland eine gesicherte, eine angstfreie Zukunft haben werden.

WN: Das jüdische Chanukkafest ist gerade vorbei, Weihnachten steht vor der Tür – und doch scheint es in diesem Jahr so wenig Erfreuliches auf der Welt zu geben. Wie gehen Sie ganz persönlich damit um?
Fehr: Im Hebräischen hat das Wort „Chai“ (Leben) eine große Bedeutung. Es symbolisiert für uns Hoffnung und den Wert des Lebens sowie den Willen, Leben zu erhalten und zu schützen. Nach dem 7. Oktober fiel häufig der Satz „Am Israel Chai“ (Das Volk Israel lebt). Ohne dieses jüdische Grundprinzip der Hoffnung wäre vieles noch schwerer zu ertragen.

WN: Sie sind regelmäßig in Israel. Haben Sie Hoffnung, dass Sie irgendwann in der Zukunft wieder dorthin können?
Fehr: Ich war zuletzt im Sommer sechs Wochen dort. Im kommenden Jahr werde ich 75 Jahre alt, für das Militär komme ich damit nicht mehr in Frage. Falls allerdings die Ernte im Frühjahr weiter unter dem Terror der Hamas leiden sollte und freiwillige Helfer gesucht werden, dann wäre ich dabei. Dann würde ich eben als Erntehelfer an der Seite Israel meinen Beitrag für mein Land in Not leisten.