Der Weg
Beinahe ein Midrash
Irgendwann vor langer, langer Zeit ging mit den Juden, die sich aufmachten möglichst weit von Ägypten wegzugehen, Shmulik, ein sommersprossiger Rotschopf. Seine Eltern waren an der schweren Arbeit unter der sengenden Sonne gestorben und der Junge war allein auf der Welt geblieben. Sicherlich wäre es ihm ganz schlecht ergangen, wäre sein ägyptischer Freund Minkah nicht gewesen, ein ebenso kleines Waisenkind. Sie halfen einander in allem, lebten in einer engen Hütte, teilten trockene Fladenbrote und Oliven miteinander und scherzten manchmal traurig, dass sie mit der Zeit zu richtigen Zwillingen geworden waren. Abgesehen davon, dass der eine von ihnen blass und schwach und der andere dunkel und von Natur aus kräftig war.

Sie beschlossen, Moshe gemeinsam zu folgen, denn die Erwachsenen hatten zu strenge und entschlossene Gesichter, wenn Juden aber ein Ziel haben, kann sie nichts und niemand aufhalten. Am siebten Tag kamen die verstummten Menschenmengen am Wasser an.

„Schau mal, Shmulik, das ist das Meer“, Minkah zog seinen Freund am Arm. „Es ist so dunkel und tief!“
„Ja“, echote Shmulik, „das Meer. Wie seltsam, die Wolkensäule vor uns ist in diesen Tagen überhaupt nicht müde geworden, meine Beine aber tragen mich kaum noch. Und weißt du, was noch? Mir scheint, als würde gleich etwas passieren, nach dem unser Leben nie wieder so wird wie vorher.“
Abends am Ufer sitzend und auf die gerade Linie des Horizonts schauend hatten die Kinder das Gefühl, dass das Leben gar nicht so schlecht war. Besonders nachdem sie ihre Bäuche mit Fisch gefüllt hatten, den man aus dem Meer geangelt und direkt in den Flammen von Lagerfeuern gebraten hatte.
Gesegnet sei der Monat Nissan, wenn alles Lebendige beginnt aufzublühen und zum Licht zu streben.
„Was ist das, hörst du das?“, Minkah legte sich plötzlich flach hin und presste sein Ohr in den Sand. Durch den stärker werdenden Lärm und das Klappern von Hunderten von Hufen war ein seltsames klirrendes Geräusch zu hören – so konnten nur die Streitwagen des Pharaos stampfen. „Sie werden uns kriegen!“, schrie der Junge voller Angst.
Geschrei wurde unter den Erwachsenen laut, sie weinten vor Angst und waren sehr wütend auf Moshe dafür, dass er sie in den Tod geführt hatte. Shmulik beobachtete nur aufmerksam, wie der blasse Moshe versuchte die lärmende Menschenmenge zu beruhigen und zur Vernunft zu bringen. „Fürchtet euch nicht, fürchtet euch nicht“, wiederholte er, „G‘‘tt wird euch alle retten.“ Doch seine Worte gingen in dem allgemeinen Lärm unter.

Die Kinder hielten einander an den Händen fest, auch ohne Worte verstehend, dass der Tod schon ganz nah war und dass sie wenigstens zusammen wie echte Brüder sterben werden. Und plötzlich erhob Moshe seinen Stab, der trocken und mit geheimnisvollen Schriftzeichen bedeckt war, und das Wasser kräuselte sich sofort. Das Meer schien in seiner eigenen Meeressprache zu rauschen und teilte sich in verschiedene Richtungen, einen ziemlich breiten Durchgang bildend. Sofort stürzten die frohlockenden Juden nach vorne, kaum erkennend, welches Wunder zu ihrer Rettung geschehen war.
„Lass uns schnell gehen, Minkah!“ Shmulik schleifte den Freund, der fassungslos war von dem, was er sah, förmlich am Arm mit. Die Füße versanken im nassen Sand, es knisterten die zertretenen Muscheln und das dunkle Salzwasser stand, sich kaum bewegend, am Weg entlang wie zwei hohe Wände. Irgendwo hinter ihnen hörte man das Dröhnen der Streitwagen des Pharaos und die Schreie der ägyptischen Krieger, die versuchten, das jüdische Lager einzuholen.
Plötzlich blieb Minkah stehen und sagte traurig zu Shmulik: „Lauf mit deinen Leuten, ich muss aber zu meinem Volk zurückkehren. Wie kann ich sie verlassen, so unvernünftig und unglücklich, wie sie sind?“ Er machte sogar einige Schritte in die entgegengesetzte Richtung.
Doch Shmulik umarmte ihn fest: „Nein, mein Bruder“, sagte er nachdrücklich, „du und ich wollten so lange dorthin ausbrechen, wo der Himmel, die Bäume und die Erde selbst frei sein werden, wo wir unseren G‘‘tt lieben können, ohne irgendwen zu fürchten. Und G‘‘tt wird mit Liebe antworten, die die unsere tausendfach übersteigen wird. Lass uns vorwärts gehen und schau einfach nicht zurück.“
Und in dem Moment schlossen sich die Wasserwände nach dem Wort von Moshe hinter den Rücken der Juden, und der Pharao und eine Menge ägyptischer Krieger blieben am Meeresgrund.

„Danke dir, Allm‘‘chtiger!“, weinten und schrien die geretteten Menschen, sie sangen und tanzten, Ihn lobpreisend, der ihnen geholfen hatte, den Ort zu verlassen, wo die Sklaverei so lange eine schwere Qual war. Die Kinder sprangen glücklich mit allen gemeinsam herum und als sie müde wurden, legten sie sich auf die Erde und schauten in die Sterne.
Ihnen schien, dass auch der Himmel sich verändert hatte und anders geworden war, niedriger, ruhig und aus irgendeinem Grund sehr vertraut.
„Meinst du, jetzt wird alles anders und wir werden glücklich?“, fragte Minkah leise.
„Anders, ja“, antwortete Shmulik ebenso leise. In seinen Augen spiegelte sich das Licht der Sterne und seine roten Haare schienen dunkel-golden zu sein. „Ich denke, wir sind ganz am Anfang des Weges.“
Minkah und Shmulik schliefen ein. Und die unsichtbaren Engel, die immer an der Seite der Kinder waren, lächelten geheimnisvoll und streichelten zärtlich ihre müden Köpfe.
Tanja Lieberman
Illustratorin: Olena Fradina