Chava
Beinahe ein Midrash
Der Tag wurde besonders heiß, der Regen war schon lange nicht mehr auf die von der Hitze brüchig gewordene Erde der kleinen Siedlung niedergegangen. Shmulik wartete geduldig mit einem Krug in den Händen und stand in der Schlange vor der tiefen Grube, in der sich Regenwasser angesammelt hatte. Die Dorfgenossen unterhielten sich leise und wischten sich immer wieder mit den Händen über die nasse Stirn. Und plötzlich berührte eine unerwartet kühle trockene Hand die Schulter des Jungen.
„Hättest du einen Schluck Wasser für mich, Kleiner?“

Als Shmulik sich umdrehte, sah er einen alten gebeugten Juden in abgetragener, aber sauberer Kleidung, mit hellen tiefsitzenden Augen. Sie schienen in der Sonne Funken zu sprühen und verbargen vieles in sich: Traurigkeit, langjährige Erfahrung, eine naturgegebene Weisheit und wohlwollende Ironie.
„Ja, ja, natürlich“, sagte Shmulik schnell, füllte den Krug bis zum Rand mit Wasser und reichte ihn sofort dem alten Mann.
Dieser trank gierig einige Schlucke, strich dem Jungen dankbar über den lockigen Kopf und sagte lächelnd:
„Also, führe mich zu deinem Haus, ich habe lange nach dir und Minkah gesucht.“
Die Kinder saßen auf dem Boden auf Strohmatten und hörten dem alten Natan mit offenen Mündern zu:
„Fragt mich bitte nicht, woher ich komme, Kinder. Ich weiß nur, dass eure Zeitreisen gefährlich sein können, deswegen hat man mich als Aufpasser für euch eingesetzt – euch zu schützen und die richtige Richtung zu weisen, wenn nötig. Oder ihr werdet mir den Weg weisen“, zwinkerte Natan ihnen listig zu, „je nachdem, wie es sich ergibt. Nennt mich Rabbi Natan oder einfach Rabbi. Jedenfalls habt ihr eine Minute, um euch fertigzumachen, man erwartet uns im Garten Eden.“
Die Jungs schlossen wie gewohnt die Augen, ein leichtes Schaukeln im Raum, ein lauter werdendes Summen über dem Kopf und…

„Oh, wie lustig sie sind!“ Eine junge Frau mit langen dunklen Haaren, die fast bis zu den Fersen reichten, stupste sie mit dem Finger auf die Stirn. „Seid ihr etwa vom Himmel gefallen?!“ Auf ihrem Kopf leuchtete ein Kranz aus Feldblumen und an den dünnen Handgelenken klingelten leise goldene Armbänder.
„Minkah, das ist Chava höchstpersönlich“, flüsterte Shmulik. Und ehe die Jungen sich versahen, zog die junge Frau sie mit sich.
„Schaut mal, das sind die Reste unserer Hochzeitstafel: Tische aus Perlen, frisches Obst, Brote aus ewigem Weizen! Das alles hat Er geschaffen“, fügte Chava mit brennendem Blick hinzu. „Vater ist oft bei uns, erzählt und zeigt alles mögliche Erstaunliche!“ Bist du hier, Papa?! Er hat etwas zu erledigen…“ Sie seufzte und setzte die Führung fort, nun gemeinsam mit Adam, der aus den Tiefen des Gartens angerannt kam und natürlich die Kinder erkannt hatte, die er mit seinen Umarmungen fast erdrückt hätte.
Süße Pfirsiche, saftige Birnen, reife Mangos fielen den Spaziergängern vor die Füße und schienen zu bitten: Esst uns schnell auf, dafür sind wir geschaffen worden. Hinter den haushohen Bäumen blitzten hin und wieder die Silhouetten von Engeln hervor, die taktvoll so taten, als seien sie gar nicht da. Die Jungen hörten zu, staunten, stellten Fragen und beiden kam der gleiche Gedanke in den Sinn: Wie glücklich diese beiden jungen Menschen sind, so schön und einander so ähnlich, als würden sie ein Ganzes bilden. Und die Atmosphäre des unendlichen Gartens war derart friedlich, als könnten Krankheiten und Ängste sich hier auf keinen Fall einleben.
„Schaut nur nicht hierher“, sagte Chava plötzlich und begann, mit den Händen in die Richtung eines Baumes zu wedeln, der seltsame blauschwarze kleine Früchte trug, die Weintrauben oder Feigen ähnelten. „Vater hat verboten, diese Beeren zu essen, und ich will nicht mal in die Nähe von diesem seltsamen Baum kommen.“ Adam nickte zustimmend bei jedem Wort seiner Begleiterin.
Plötzlich bedeckte eine dunkle Wolke den Garten, der Vogelgesang verstummte sofort und es fühlte sich an, als seien die Zweige der Bäume tiefer gesunken, als sei alles vor den drohenden Veränderungen erstarrt.
Die still gewordenen Kinder, Adam und Chava, die einander ängstlich umarmten, hörten ein Rascheln, und eine riesige Schlange kroch ihnen entgegen, eine breite Spur im zerdrückten Gras hinterlassend.

„Ich hörte“, begann die Schlange in weichem samtigem Bariton zu sprechen, „dass Hashem euch verboten hat die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu essen?“
Sie schaute lange in Richtung des Verbotenen Baumes.
„Wozu sind sie denn geschaffen worden, wenn ihr sie nicht probieren dürft? Hashem selbst hat von dem Baum gegessen und… die Welt erschaffen. Und jetzt versucht Er zu verhindern, dass ihr davon probiert, damit ihr Ihm nicht ähnlich werdet und nicht auch Welten erschaffen könnt.“
Die Schlange lächelte und beobachtete aufmerksam die ersten Menschen, als würde sie die Unruhe auf Chavas fast noch kindlichem Gesicht genießen.
„Hört bitte nicht auf sie!“, flehten Shmulik und Minkah im Chor und versuchten Adam und Chava von den Worten der Schlange abzulenken. „Sie ist ein Feind und auf Feinde darf man nicht hören!“
Die Augen der Schlange wurden beim Anblick der Kinder schwarz und begannen, zwei tiefen Abgründen zu ähneln. Noch einen Moment und sie hätte sich auf die beiden gestürzt und sie erwürgt. Doch in diesem Augenblick erschien neben der Schlange wie aus dem Nichts Rabbi Natan und hielt das widerliche Geschöpf mit einer Berührung der Hand auf. Dann wandte er sich den Kindern zu und sagte streng:
„Es ist Zeit für uns. Ihr habt gesehen, was ihr sehen musstet, und gesagt, was ihr sagen musstet. Ab jetzt wird alles ohne uns geschehen.“
„Noch eine Minute, bitte!“, bat Shmulik. „Wir schaffen es, Adam und Chava zu überreden, keine Dummheiten zu machen!“
Doch die hellen Augen Chavas starrten mit verschleiertem Blick auf die blauschwarzen üppigen Büschel von Beeren und es schien, als würde sie die Kinder nicht mehr bemerken. Adam schaute Chava an und wartete darauf, was sie sagen oder was sie tun würde.
Es begann zu regnen. Große Tropfen erstarrten zu kleinen Spiegeln auf der glänzenden Schlangenhaut.
Der alte Natan bedeckte die Augen Minkahs und Shmuliks mit den Händen und ein paar Minuten später saßen sie zu dritt zuhause auf denselben Strohmatten und schauten einander schweigend an.
Tanja Lieberman
Illustratorin: Olena Fradina