
Die Prozession mit den Torarollen an der Synagoge in Livorno.
Gemälde von Solomon Alexander Hart, 1850 (Jewish Museum London)
Kontinuität der Traditionen
Streifzug durch die Geschichte
Am diesjährigen Simchat Tora ist es genau 360 Jahre her, dass ein Mitglied des britischen Parlaments diese historische Aufnahme machte, als er eine Synagoge in der Creechurch Lane im Herzen Londons besuchte.
Wenn man genau hinschaut, hat sich das Wesen der Handlung und der ganzen Prozession in diesen 360 Jahren nicht verändert, nur die Kleidung der Gläubigen hat sich geändert, so dass man sich über die Kontinuität des Geschehens freut.
Einer, der die Tradition des Festes Simchat Tora (שמחת תורה) nicht kennt, kann kaum verstehen, was an dem Abend in der Synagoge passiert. Für Außenstehende scheint der Brauch singender und mit Tora-Rollen tanzender Juden, sehr seltsam und zumindest exzentrisch. Denn die Tora-Rolle ist kein Musikinstrument und sie ist nicht nur ein Buch, sondern das Buch der Bücher, die man sehr vorsichtig entrollen und lesen soll, mit Hilfe des speziellen Zeigers „Jad“ ohne sie mit Fingern zu berühren, und man soll schon gar nicht mit ihr in der Synagoge tanzen. Genauso fasste Samuel Pepys das Gesehene auf – Mitglied des britischen Parlamentes, Autor des berühmten Tagebuchs aus dem Londoner Alltag während der Stuart-Restauration. Am Feiertag Simchat Tora, den 14. Oktober 1663, besuchte Samuel Pepys die spanisch-portugiesische Synagoge in der Creechurch Lane in London. In seinem Tagebuch machte er die folgende Notiz.
[…] wo Männer und Jungen in ihren Tüchern sind und Frauen hinter einem Gitter außerhalb der Sichtweite; einige Dinge stehen in einem Schrank, ich glaube, es ist ihr Gesetz, vor dem sich alle Hereinkommenden verneigen; und wenn sie ihre Tücher anlegen, sagen sie etwas, worauf andere, die es hören, „Amen“ rufen und jeder sein Tuch küsst. Ihr G-ttesdienst wird vollständig gesungen und das in Hebräisch. Und ihre Gesetze, die sie aus dem Schrank nehmen, werden von einigen Männern getragen, vier oder fünf einzelne Lasten, und sie helfen sich gegenseitig; ob es so ist, dass jeder sich danach sehnt sie zu tragen, kann ich nicht sagen, doch sie tragen sie im Raum herum, während alle Gebete singen. Und am Ende beteten sie für den König, dessen Namen sie in Portugiesisch aussprachen, doch das Gebet wie auch der Rest war in Hebräisch. Doch oh Herr! Dieses Durcheinander, das Lachen, Herumtollen und der völlige Mangel an Aufmerksamkeit, stattdessen Chaos in ihrem ganzen G-ttesdienst, eher wie Wilde als wie Menschen, die den wahren G-tt kennen! Es würde einen Mann abschwören lassen, sie jemals wiederzutreffen, und tatsächlich habe ich nie so etwas gesehen oder hätte mir vorstellen können, dass es auf der ganzen Welt eine Religion mit so absurden Bräuchen gibt […]
Ungeachtet aller nach außen scheinenden Merkwürdigkeit liegt in diesem Brauch ein tiefer Sinn (in der jüdischen Welt erfasst man alles durch Wissen und Verstehen der Ereignisse). Der Babylonische Talmud erinnert im Traktat Megila (296) daran, dass die Juden Babyloniens die Jahreslesung der Tora genau am Tag nach dem Feiertag Shmini Azeret beendeten („feierliche Versammlung am achten Tag“). Von ihnen geht die Tradition aus, zu tanzen und sich zu freuen, am Tag, wenn die Lesung der Tora-Rolle beendet wird. Die Babylonischen Juden nannten diesen Tag Simchat Tora – „Freude der Tora“.
Rabbi Natan Sterngratz aus Nemirov sagte einmal: „Der Anteil, der in der Tora von jedem des Volkes Israel enthalten ist, ist sein ´Buch der Tora´. Und jeder ist mit seinem Anteil und seinem Buch Teil eines Ganzen. Dann ist die Tora vollendet und alle strengen Beschränkungen der Welt werden versüßt. Wenn alle eins sind, kommt die Freude der Tora.“
So hat dieser Feiertag die uns bekannte Gestalt angenommen, als Ergebnis des fast tausendjährigen gemeinsamen Wirkens von Juden aus aller Welt. Spätere Generationen haben die Traditionen sorgsam bewahrt, die sie von ihren Vorfahren erbten, sie kreativ erweitert und der Feier neue Elemente hinzugefügt. Ich denke, das hat etwas zutiefst Symbolisches, denn es stellte sich heraus, dass die Geschichte des „Festes der Tora“ der Geschichte der Tora selbst ähnelt, also der jüdischen Tradition, die auf dem Sinai begann und bis heute andauert.
Ramiel Tkachenko, Chefredakteur des Magazins J.E.W.