Nimrod

Beinahe ein Midrash

Teil 2

Ungefähr nach einer Woche des Aufenthalts im Schloss Nimrods, als Shmulik die Hoffnung schon völlig aufgegeben hatte, nach Hause zurückzukehren, und sehr traurig wurde, als er so viel Ungerechtigkeit um sich herum sah, geschah ein Wunder. Neben der Küchentür, wo der müde Shmulik das Geschirr aus Ton abwusch, erschienen Rabbi Nathan und Minkah mit vor Schlaflosigkeit geschwollenen Augen.

„Komm hierher, schneller“, deutete ihm Nathan mit Handzeichen. Shmulik hätte fast die Schüssel zerbrochen, weil die ihm vertrauten Menschen so unerwartet erschienen waren, und sprang sofort zu ihnen rüber und umarmte beide gleichzeitig fest. Sie gingen aus dem Schloss hinaus, in einen menschenleeren Hof, der von Wänden umgeben war und in dessen Mitte ein steinerner, offensichtlich schnell zusammengebauter mannshoher Ofen stand. Darum herum wuselten einige Menschen, die zerkleinerte Baumstämme und Zweige hineinlegten.

Nathan und die Kinder gingen so weit wie möglich davon weg, damit niemand auf die Idee kam, ihnen Fragen zu stellen, und beobachteten, wie die Wachen Feuer mithilfe trockenen Heus entzündeten und diese in den Ofen warfen. Als die Steine glutrot waren, kam Nimrod mit seinem Berater und Oberbefehlshaber der Armee Terach heraus und mit ihnen einige Krieger, die einen hochgewachsenen Menschen mit gefesselten Händen zum Ofen führten. Der Gefangene hatte einen kurzen grau werdenden Bart, er trug die traditionelle Kleidung eines Nomaden, mit einem Stück Stoff, der mit einem Reifen festgehalten wurde, auf dem Kopf.

„Wer ist das?“, fragte Shmulik erschrocken.

„Avraham“, antwortete der alte Nathan leise, „und Terach ist sein Vater. Schau, wie nervös er ist.“

Terach war tatsächlich kreidebleich, er drehte sich zu Nimrod um, versuchte demütig zu lächeln, und schaute sofort zu Avraham hinüber, mit einem Blick voller Schmerz und Mitleid.

Nimrod war ruhig wie immer. Mit seinem Blick schien er die ganze Welt einzulullen wie eine listige Katze, die ohne Eile zu ihrer Beute hinüberkriecht. Avraham schwieg und sah den König nicht ein einziges Mal an, sondern schaute nur auf die Erde vor sich, als stünde alles, was geschah, geschrieben und sei unausweichlich.
Nimrod winkte mit der Hand. Einer seiner Krieger warf einige Baumstämme in den Ofen und die Flammen schlugen hoch. Das Feuer verbrannte die Luft und atmete durch die Hitze, wie ein riesiges Tier, bereit alles Lebendige zu verschlingen.

„Verbrennt ihn“, sagte Nimrod lächelnd.

Shmulik, der nicht die Kraft hatte, das Geschehen zu ertragen, flüsterte: „Das ist nicht wahr, er wird nicht verbrennen, so etwas kann einfach nicht sein …“

Und plötzlich geschah etwas Seltsames. In dem Moment, als die Flamme im Ofen hochloderte, hob Avraham den Kopf und machte einen Schritt vorwärts, in das Feuer. Und in der Luft erschien auf einmal ein grelles Leuchten. Es schien, als sei die Welt drumherum erstarrt.

Nach ungefähr einer Minute kam Avraham unbeschadet aus dem Ofen. Das Feuer hatte ihn nicht angerührt.

Nimrod stand bestürzt da. Seine Lippen zitterten und der Blick wurde immer unruhiger. Terach hatte den Kopf gesenkt, um die Freude des Vaters nicht zu offenbaren – wenn sein Kind überlebt, ungeachtet dessen, dass der Tod ihm so nahe gekommen war.

„Das ist unmöglich!“, brüllte Nimrod. „Vernichtet ihn!“

Doch als die Krieger angerannt kamen, um Avraham zu schnappen, geschah etwas und sie konnten sich nicht bewegen.

„Seht zu, Kinder, und erinnert euch daran, es ist die Zeit offener Wunder“, sagte Rabbi Nathan geheimnisvoll.

Der Gesichtsausdruck Avrahams erstaunte durch seine Standhaftigkeit und einer Art innerer Ruhe. Er schaute Nimrod schweigend an und in seinem Herzen gab es keine Furcht. Nimrod, der sich für den Herrscher der Welt hielt, erkannte endlich: Vor ihm stand ein Mensch, härter und stärker als all seine irdische Macht. Weil er die Sicherheit verloren hatte, wusste er nicht, was er weiterhin tun sollte. Er lies die Schultern hängen und sein Blick wurde trüber.

In diesem Moment flog über die Köpfe der Krieger hinweg ein gackerndes seltsames Wesen. Es war Beba, und sie war so schnell, als würde eine ganze Herde wilder Tiere sie verfolgen. Sie landete unerwartet auf der Schulter Shmuliks. Der Junge konnte sich nicht mehr halten und lachte los – eine solche Entwicklung der Ereignisse hatte er nicht erwartet.

„Was machst du, Beba?!“, rief Shmulik aus. Doch ihr Erscheinen half, die Anspannung zu vertreiben, welche in der Luft hing.

Nathan nutzte den Moment und bedeckte die Kinder mit dem Saum seiner Tunika und so tauchten sie zuhause auf, neben ihrer Hütte.

Beba lief sofort weg, auf der Suche nach Körnern. Minkah aber blieb beeindruckt von den Erlebnissen und fragte Nathan immer wieder, was weiter geschehen musste.

„Weiter“, sagte Nathan nachdenklich, „wurde allen noch deutlicher klar, dass es einen Einzigen gibt, der alles beobachtet. Und dieser Eine ist Hashem, der über die Sonne, die Sterne und den Himmel, über Berge und Flüsse, Bäume, Tiere und Vögel herrscht. Für Nimrod endete das Ganze tragisch, er wurde von Esau, den Enkel Avrahams, ermordet. Kannst du dir vorstellen, Minkah, wie alles auf dieser Welt durch Seinen großartigen Plan verbunden ist?“

Tanja Lieberman
Illustratorin: Olena Fradina