Neue Brücken zwischen Dortmund und Zhytomyr
Am 9. Juli unterzeichneten der Dortmunder Oberbürgermeister Thomas Westphal und die kommissarische Stadtoberhauptin von Zhytomyr, Halyna Shymanska, feierlich die Städtepartnerschaftsurkunde. Doch die Partnerschaft lebt nicht allein von materiellen Hilfen wie Generatoren, Bussen oder medizinischer Ausstattung in der Kriegszeit.
„Wir als jüdische Gemeinde möchten diesen Prozess aktiv mitgestalten. Deshalb initiierten wir den ersten Schritt: die Begegnung mit der jüdischen Schule in Zhytomyr“, sagt Rabbiner Nosikov. „Als Zeichen der Solidarität wollten wir den Kindern und ihren Familien eine kleine Atempause ermöglichen – eine Auszeit von ständigen Luftalarmen, Bombenangriffen und der belastenden Realität des Krieges.“ Und er weiß aus eigener Erfahrung, wovon er spricht: Beim ersten Vorbereitungstreffen in Zhytomyr zur Städtepartnerschaft erlebte der Rabbiner zusammen mit der Dortmunder Delegation selbst die bedrückende Kriegsrealität mit Sirenenalarm und Flucht in Schutzräume.
Als Rabbiner Nosikov im Sommer 2024 die Idee äußerte: „Wie wäre es, wenn ihr alle uns besuchen kommt!“ erschien dies Elina Tabachenko, der Schulleiterin des jüdischen Privatlyzeums, zunächst unrealistisch. Aber nur einen Tag nach der Unterzeichnung der Partnerschaftsurkunde kamen 23 Gäste aus dem jüdischen Privatlyzeum „Or Avner“ nach Dortmund: Kinder und Mütter, die hier eine Woche der Begegnung und Erholung verbringen sollten. Diese Erholung war mehr als nötig: In der Nacht vor der Abreise war Zhytomyr die ganze Nacht über Ziel heftiger Bombardierungen, und niemand aus der Gruppe konnte schlafen.
„Für uns in der Ukraine ist heutzutage jeder Moment ohne Luftalarm, ohne tägliche Sorge und in guter Gesellschaft ein Geschenk“, erzählt Elina Tabachenko. „Niemand fragt uns, wann eine Shahed-Drohne oder eine Rakete kommen darf. Andere entscheiden für uns: Schlafen wir nachts oder sitzen zwischen zwei Wänden auf dem Boden, lernen unsere Kinder im Klassenzimmer oder im Bunker.“
Ein Programm voller Eindrücke
Die Planung dieser Reise ging fast ein Jahr. Termine und Pläne änderten sich mehrmals, die Teilnehmerzahl schwankte ständig, und irgendwann hatte Elina das Gefühl, das ganze Projekt könnte platzen. Doch der Appell aus dem Rabbinat: „Alles ist gebucht und geplant! Alle warten auf euch!“ hauchte ihr neue Kraft ein.
„Eine der größten Fragen war die Finanzierung“, erzählt Elina Tabachenko. „Denn heutzutage können sich nur wenige Familien in der Ukraine eine einwöchige Europareise leisten. Aber dank der Unterstützung von Sponsoren übernahmen die Gastgeber den Großteil der Kosten!“
Die ersten Bekanntschaften knüpften die Gäste zusammen mit den Jugendlichen vom Jugendzentrum „Emuna“ beim Glowing Rooms Minigolf. „Durch das Minigolfspielen konnte ich mich gut mit ihnen unterhalten, obwohl sie ab und zu auch Ukrainisch sprachen“, erzählt Ilana Kurakins vom Jugendzentrum.
Am Freitagabend dann der Höhepunkt: ein gemeinsamer Kabbalat Schabbat mit über 120 Teilnehmern aus Dortmund und Zhytomyr. Die Atmosphäre war bewegt und herzlich. Es war unglaublich schön zu sehen, wie die Kinder aus beiden Ländern gemeinsam beteten, sangen und lachten. Schulleiterin Elina Tabachenko bedankte sich bei allen, die diese Ferienwoche ermöglicht hatten – von den Organisatoren bis zu den Sponsoren, darunter persönlich Johannes Schaffeldt vom Westfälisch-Jüdischen Jugendbund: „Wir fühlen uns wie in einer Familie. Genau wie zu Hause in Zhytomyr. Wir spüren, man hat auf uns gewartet!“ Und die Gemeinde bekam ein kreatives Geschenk: zwei mit Perlen handbestickte Bilder, gefertigt von talentierten Müttern der Reisegruppe.
Am Schabbat lernten die Gäste bei einem Spaziergang durch Dortmund Rabbiner Nosikov und seine Familie näher kennen. Sie sprachen über die Thora und über Fußball. „Am Freitagabend freundeten Tamara und ich uns mit Viktoria an“, berichtet Ilana. „Den Spaziergang durch die Innenstadt fand ich sehr schön – man konnte sich entspannt mit neuen Freunden unterhalten.“
Die Woche bot viele unvergessliche Momente: den Blick vom Florianturm, das prachtvolle Schloss Nordkirchen, ein mittelalterliches Ritterturnier und die charmante Altstadt von Hattingen.
„Der Ort, zu dem es mich als Fußballspieler wie einen Magneten hinzog, war das Stadion Signal Iduna Park“, sagt Daniel Tabachenko. Selbst diejenigen, die sonst keine Fußballfans sind, waren von der Atmosphäre tief beeindruckt. Die Gruppe durfte einen Blick hinter die Kulissen werfen und sich im „Ultras“-Block wie echte Borussen fühlen. Und für Borussia gab es ein besonderes Geschenk: Die Gäste überreichten einen Fußball aus Schokolade in Originalgröße und in den Vereinsfarben aus der familieneigenen Schokoladenfabrik eines der Teilnehmer wander.chocolate in Zhytomyr. Mit größter Sorgfalt war er über alle Grenzen hinweg bis ins Stadion gebracht worden – und erinnert vermutlich noch heute im BVB-Büro an die neue Partnerstadt.
Elena Skibinska berichtet, wie schnell Freundschaften mit den Gästen entstanden: „Die Kinder verstanden sich gut, denn wir waren am Anfang des Krieges auch in der Ukraine und wissen genau, was dort jetzt passiert. Wir konnten verstehen, wie schwer es für Jugendliche jetzt ist zu lernen und dass sie gar keine Kraft für Hobbys haben.“

Während des Besuchs im Stadion des BVB Borussia Dortmund

Schulleiterin Elina Tabachenko
und Rabbiner Avigdor Moshe Nosikov – in Borussia-Farben

Die Gäste des Jüdischen Privatlyzeums „Or Avner“ überreichten einen Fußball aus Schokolade in Originalgröße und in den Vereinsfarben aus der familieneigenen Schokoladenfabrik Wander in Zhytomyr eines Teilnehmers der Reisegruppe
Ein Projekt mit Herz und Perspektive
Hinter der einwöchigen Reise steckte eine immense logistische und finanzielle Leistung. Dank Fördermitteln und großzügigen Privatspenden übernahm die Jüdische Gemeinde Dortmund zum großen Teil die Kosten für Busfahrt, Unterkunft, Verpflegung und Ausflüge.
Neben den Erlebnissen machten auch die Menschen diese Woche besonders, die sich um alle kümmerten: von der Küche, die dreimal täglich kochte, bis zu den Mitarbeitern des Rabbinats. Elina Tabachenko beschreibt es so: „Hana war immer da und hat sich um alles gekümmert. Sie war morgens da, begleitete uns bei allen Ausflügen, half, gab Tipps, plante die Route, bestellte ein Taxi im strömenden Regen. Sie kümmerte sich um jeden: ‚Vergesst nicht, Wasser mitzunehmen, macht Sandwiches für unterwegs packt Obst ein.‘“
Als auf dem Weg nach Antwerpen der Bus kaputtging, zeigte sich erneut die Schlagkraft des Dortmunder Duos: „Sofort beschlossen Rabbiner und Hana: Einen Teil der Gruppe bringt der Rabbiner mit seinem Bus nach Dortmund, mit dem Rest fährt Hana mit öffentlichen Verkehrsmitteln“, erinnert sich Elina Tabachenko. „Beide blieben ruhig, und diese Ruhe übertrug sich auf uns. Man sah nur das Gute.“
Die Dankbarkeit der Gäste spricht für sich: „Als ich losfuhr, erwartete ich ein volles Programm, neue Bekanntschaften und einen herzlichen Empfang – und all das erfüllte sich sogar noch mehr, als ich mir vorstellen konnte. Die Atmosphäre war so aufrichtig, dass ich mich vom ersten Moment an wie Teil einer großen Familie fühlte“, sagt Dana Remnova.
Die Woche verging wie im Flug. „Wir lachten viel. Wir klärten schwierige Fragen“, erinnert sich Elina Tabachenko. „Aber immer waren sie da: die Menschen, die vor einem Jahr sagten: ‚Kommt uns besuchen!‘“
Svetlana Starik ergänzt: „Rabbiner Avigdor Nosikov ist modern, offen und kreativ, seine Gemeinde besteht aus aufrichtigen und wohlwollenden Menschen, von denen man gar nicht abreisen möchte.“ Auch Julia und Viktoria Polkunova danken vom ganzen Herzen der Gemeinde. „Ihr habt eine wirklich warme und unterstützende Atmosphäre geschaffen, in der sich jedes Mitglied unserer Gruppe als willkommener Gast fühlte. Wir sind erholt von den Luftalarmen zurückgekehrt, voller Eindrücke.“
„Unser Ziel war es, Brücken zu bauen und den Kindern eine kleine Atempause zu ermöglichen“, sagt Rabbiner Nosikov. „Ich freue mich, dass uns das gelungen ist – sowohl auf menschlicher Ebene als auch im Sinne der partnerschaftlichen Verbindung zwischen unseren Gemeinden. Wie erfolgreich diese Begegnung wirklich war, wird sich im nächsten Schritt zeigen. Aber für mich steht fest: Dieser nächste Schritt wird kommen“, sagt der Rabbiner. Dieser Gedanke findet volle Unterstützung in Zhytomyr: „Ja, lieber Rabbiner Avigdor – wir werden über neue gemeinsame Projekte nachdenken!“
Rabbinat Dortmund
Foto: Hana Kopelewitsch, Svetlana Starik